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Ludwig von Mises – der liberale Klassiker dieses Jahrhunderts

Lesedauer: 8 Minuten

(Schweizer Monatshefte – Heft 10, 1994 – Seite 17-20)

DOSSIER

In einer Zeit, in der Europa den Glauben an Freiheit und Demokratie verloren hatte, gehörte der Österreicher Ludwig von Mises (1881-1974) zu den kompromisslosen und weitsichtigen Verteidigern des Liberalismus. Er sagte schon in den zwanziger Jahren des Ende des sozialistischen Wirtschaftssystems voraus.

Obwohl Ludwig von Mises in den USA zu den bekanntesten Vertretern der «Austrian Economics» zählt und obwohl das Interesse an seinem Werk und seinen Ideen dort schnell und stetig wächst, gehört er in Westeuropa zu jenen vergessenen Klassikern, deren Überlieferung durch Vorurteile in der Sekundärliteratur verfälscht wird. Anders in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Dort wird er unter der kleinen, aber aktiven und kreativen liberalen Elite fleissig gelesen und auch übersetzt. Da er nicht nur den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Sozialismus vorausgesagt hat, sondern auch schlüssig nachweist, dass der als «dritter Weg» propagierte und weltweit praktizierte Interventionismus und Protektionismus notwendigerweise in den Sumpf der hohen Staatsverschuldung führt, gehört er zu jener seltenen Spezies von sozialwissenschaftlichen Theoretikern, deren Analysen und Prognosen den Test der Empirie bestehen und ihre Aktualität — mindestens teilweise – wahren und steigern können. Vielleicht ist dies ein Grund, wieso er als kompromissloser Aussenseiter, dessen Auffassungen sich in hohem Mass als zutreffend erwiesen, von jenen Fachkollegen, die ihre Meinung stets flexibel an die politische Tagesaktualität und an die intellektuelle Mode ange¬ passt haben, gemieden und verdrängt wird. Ludwig von Mises gehört zu jenen überragenden Persönlichkeiten, die ohne Rechthaberei eine persönliche Überzeugung mir langem Atem und ohne Rücksicht auf Kollegenschelte vertreten, weil sie wissen, wie wertlos die momentane Popularität und die Anbiederung bei den politisch und wirtschaftlich Einflussreichen letzlich ist. Die 1967 erschienene amerikanische Übersetzung seines klassischen Werks «Liberalismus» leitete er im Vorwort mit folgender Bemerkung ein: «Es ging mir allein darum, der kleinen Minderheit denkender Menschen eine Möglichkeit zu eröffnen, etwas über die Ziele und die Leistungen des klassischen Liberalismus zu lernen und dadurch den Weg für eine Wiederauferstehung des Geistes der Freiheit nach dem bevorstehenden Debakel vorzubereiten.» Inzwischen hat das Debakel der sozialistischen Gemeinwirtschaft stattgefunden, dasjenige des interventionistischen Wohlfahrtsstaats steht in absehbarer Zeit bevor, aber das Interesse der kleinen Minderheit denkender Menschen ist — wenigstens in Zentral- und Westeuropa — noch nicht erwacht. Die deutsche Originalausgabe des Klassikers zum Thema «Liberalismus» war schon 1927 in Jena erschienen und liegt nun in einem broschierten Nachdruck vor1. Hans-Hermann Hoppe hat dazu eine Einführung verfasst, welche auf 30 Seiten nicht nur die wichtigsten biographischen Informationen vermittelt, sondern auch eine ideengeschichtliche Würdigung in einem grösseren Zusammenhang darstellt und die Wirkungsgeschichte wiedergibt. In den USA hat das Werk des bedeutenden liberalen Klassikers tiefere Spuren hinterlassen als in Europa, das doch so gerne den Anspruch erhebt, eine im Weltmassstab überdurchschnittlich grosse Zahl jener Minderheit denkender Menschen zu stellen, an die sich Ludwig von Mises wendet.

Mit den Waffen des Geistes

Offensichtlich erreichten in Europa, dem Brandherd von zwei Weltkriegen und dem Nährboden der gewaltträchtigsten totalitären Ideologien im 20. Jahrhundert linke und rechte Hetzschriften Millionenauflagen, während hellsichtige Mahner und Warner wie Ludwig von Mises ausserhalb eines engen und hochqualifizierten Kreises von Schülern wenig Beachtung fanden und finden. Dies ist nicht einfach eine bedauerliche Unterlassung, sondern eine wirkliche Tragödie; denn durch die Unfähigkeit, gewaltsame Unterdrückung mit den besseren «allein den Enderfolg versprechenden Waffen des Geistes» (L.v.M.) zu bekämpfen, hat die Minderheit denkender Menschen in ihrer ideologischen Verblendung ungeheure Schuld auf sich geladen. Offenbar hat sich jene historisch verbürgte Abneigung gegen Seher und Propheten, die zwar plausible, wahre, aber unangenehme, zum Teil auch im eigentlichsten Sinn des Wortes enttäuschende Botschaften verbreiten, auch auf die Sozialwissenschaftler der Neuzeit übertragen. Ludwig von Mises ist in Europa der am wenigsten bekannte und rezipierte liberale Klassiker dieses Jahrhunderts, und viele Ökonomen verbinden mit seinem Namen lediglich die Assoziation mit einem unzeitgemässen «Paläoliberalen» und allenfalls mit der Tatsache, dass F. A. von Hayek einer seiner Schüler war. Der Nachdruck von «Liberalismus» und die ausgezeichnete und in verschiedenster Hinsicht vorbildliche Einführung von Hoppe werden diesem Missstand hoffentlich abhelfen.

Dass det Liberalismus gerade nicht den egoistischen Kampf aller gegen alle propagiert, sondern die freiheitsvermittelnde soziale Funktion von Eigentum und Vertrag ins Zentrum stellt, kann man bei Mises nachlesen.

Denkanstösse statt Dogmen

Selbstverständlich bietet das Werk – wie jeder Klassiker — auch Angriffsflächen, und es will nicht die dogmatische Grundlegung des Liberalismus sein, was im durchaus selbstbewusst eindeutigen, aber auch bewusst zurückhaltenden Buchtitel (ohne Artikel) zum Ausdruck kommt. Die Angriffsflächen des Werks liegen nicht in irgendwelchen Tiefen und Unscharfen verborgen, sondern treten in teilweise provozierenden Formulierungen klar zu Tage. Bei zahlreichen prägnanten Sätzen wie «In dem Kampfe der Gewalt mit der Idee siegt immer die Idee» (S. 44) beginnt man unwillkürlich, Gegenargumente zu suchen, historische «Beweise» und «Gegenbeweise». Ähnliche Denkanstösse bewirkt die nicht minder apodiktische Aussage «Die Tyrannei einer Minderheit kann nie Bestand haben, es sei denn, dass es der Minderheit gelingt, die Mehrheit von der Notwendigkeit oder zumindest Nützlichkeit ihrer Herrschaft zu überzeugen» (S. 40). Soll man das unterstreichen, mit Fragezeichen oder Ausrufzeichen versehen? Immerhin sind es Gedanken von solcher Klarheit und Einfachheir, welche jene treffsicheren Voraussagen ermöglichten, über die der heutige Leser immer wieder staunen mag.

Das Kapitel 13, Der Staat und das antisoziale Verhalten, beginnt mit der lapidaren Feststellung «Der Staat ist Zwangs- und Unterdrückungsapparat». Die daran anknüpfende Argumentation ist wesentlich differenzierter und zeigt die didaktische Funktion des Einleitungssatzes, der zunächst den Mythos des Staates in Frage stellt, aber auch zum Widerspruch reizen soll. Schon im nächsten Abschnitt übt der Autor Kritik an Nietzsche, der den Staat «das kälteste aller Ungeheuer» genannt hat. Dies leitet über zu den unabdingbaren Funktionen des Staates, die durchaus befürwortet werden. «Dass Staatsgewalt und Strafgericht Einrichtungen sind, die die Gesellschaft unter keinen Umständen je wird entbehren können, will und kann der Liberalismus nicht bestreiten» (S. 51). Die Distanzierung vom Anarchismus wird mit besonderem Eifer verfochten. «Liberalismus hat mit Anarchismus nicht das geringste zu tun. Der Liberalismus ist sich darüber ganz klar, dass ohne Zwanganwendung der Bestand der Gesellschaft gefährdet wäre und dass hinter den Regeln, deren Befolgung notwendig ist, um die friedliche menschliche Kooperation zu sichern, die Androhung von Gewalt stehen muss, soll nichtjeder einzelne imstande sein, den ganzen Gesellschaftsbau zu zerstören» (S. 33).

Bewährungstest bestanden

Ludwig von Mises, so erklärte mir kürzlich ein durchaus liberaler emeritierter Dozent der Volkswirtschaftslehre, sei «nur noch ideengeschichtlich relevant». Wer seine Bücher liest, die übrigens in einer auch für NichtÖkonomen durchaus verständlichen und vorbildlichen Wissenschaftssprache verfasst sind, kann sich vom Gegenteil überzeugen. «Nur noch geschichtlich» interessieren uns jene Klassiker, die Überlegungen ansrellten, die sich im nachhinein als falsch, überholt oder überflüssig herausstellten und deren Voraussagen nicht eingetreten sind. In der Ideengeschichte gibt es keinen objektiven wissenschaftlich überprüfbaren Wahrheitsbeweis. Geschichte ist das Labor der Sozialwissenschaft, in dem die Tauglichkeit von Ideen getestet wird, und die Frage, ob man aus der Geschichte etwas lernen könne, wird oft vorschnell mit einem «Nein» beantwortet. Immerhin kann man die Voraussagen, welche vor 77 Jahren publiziert worden sind, anhand der späteren historischen Ereignisse überprüfen. Dabei zeigt sich, wie treffend die Analysen und Prognosen waren, deren Grundlagen offenbar bis heute in der Sozialwissenschaft immer noch weitgehend ignoriert werden. Ludwig von Mises besteht diesen nachträglichen Test mit Bravour, obwohl er sich in verschiedenster Hinsicht weit auf die Äste einer Voraussage hinausgewagt hat. Vielleicht liegt darin sogar ein tieferer Grund für den Bogen, den viele Theoretiker noch heute um sein Werk machen. Irgendwie ist es nämlich beschämend, dass sich eine ganze wissenschaftliche Disziplin wie die Nationalökonomie trorz der seit den zwanziger Jahren publizierten Fundamentalkritik und trotz der daraus abgeleiteten Analysen und Prognosen so lange von den Pseudoerfolgen der sozialistischen Planwirtschaft blenden liess und schliesslich vom längst vorausgesagten Zusammenbruch noch überrascht worden ist. Die «Stunde der Wahrheit» wird für Mises auch bei seinem Urteil über den Interventionismus noch schlagen, aber dieses doppelte Debakel der Politik und der mit ihr vernetzten Wissenschaft steht noch bevor.

Die «Stunde der Wahrheit» wird für Mises auch bei seinem Urteil über den Interventionismus noch schlagen, aber dieses doppelte Debakel der Politik und der mit ihr vernetzten Wissenschaft steht noch bevor.

Gegen rote und braune Fäuste

Es gehört zu den Grundirrtümern der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass sich der entscheidende ideologische Kampf zwischen den rechts stehenden Faschisten und den links stehenden Sozialisten abgespielt habe und dass die liberalen Anhänger des Kapitalismus sich als Anti-Linke mit dem Nationalismus und dem Faschismus verbündet hätten. Sicher gab es solche Pseudoliberale, aber Ludwig von Mises schreibt dazu Unmissverständliches: «Die grosse Gefahr, die von Seite des Faszismus in der Innenpolitik droht, liegt in dem ihn erfüllenden Glauben an die durchschlagende Wirkung der Gewalt» (S. 44). «Wollte er» (der Faszismus) «den Sozialismus wirklich bekämpfen, dann müsste er ihm mit Ideen entgegentreten. Es gibt aber nur eine Idee, die man dem Sozialismus wirksam entgegenstellen kann: die des Liberalismus» (S. 45). Im Bereich der Aussenpolitik des Faszismus gelangt Mises — schon 1927! – zu folgender Aussage: «Dass er aussenpolitisch durch das Bekenntnis zum Gewaltprinzip im Verhältnis von Volk zu Volk eine endlose Reihe von Kriegen hervorrufen muss, die die ganz moderne Gesittung vernichten müssen, bedarf keiner weiteren Ausführung.»

Die Gesellschaft als solche bejahen

Ludwig von Mises hat sich intensiv mit dem berechtigten Vorwurf auseinandergesetzt, die Liberalen wussten zwar stets, was sie gemeinsam ablehnten, aber sie hätten keine konstruktive Alternative. Das fatale Bild von der «liberalen Mitte» zwischen dem linken Sozialismus und dem rechten nationalistischen Konservativismus hat dazu geführt, dass es immer wieder Liberale gab und gibt, die mit Hilfe von Bindestrichen (als Sozial- Liberale, Liberal-Konservative oder Öko- Liberale) Kompromisse und Koalitionen suchen und finden. Neben diesem Hang zur kompromittierenden Koalition ist ein zweites Übel unter Liberalen stark verbreitet. Man ist zu schnell bereit, die Vorwürfe, die den Liberalen gemacht werden, und das Feindbild, das auf sie projiziert wird, für bare Münze zu nehmen und dort schuldbewusst billige Ausreden zu suchen, wo selbstbewusste und stichhaltige Gegenargumente gefragt wären. Dass der Liberalismus gerade nicht den egoistischen Kampf aller gegen alle propagiert, sondern die freiheitsvermittelnde soziale Funktion von Eigentum und Vertrag ins Zentrum stellt, kann man bei Mises nachlesen. Er bekennt sich offen zum Kapitalismus und zeigt auf, dass die sogenannten Auswüchse nur verschärft werden, wenn man sie interventionistisch bekämpfen will. Auch dem Vorwurf des gesellschaftsfeindlichen und in einer vernetzten Gesellschaft immer weniger aktuellen Individualismus begegnet er mit Argumenten. Er zeigt, wie verfehlt es ist, zwischen öffentlichen und privaten Interessen einen unüberbrückbaren Gegensatz zu konstruieren.

«Der in der Gesellschaft lebende Mensch muss bei all seinem Fun und Lassen nicht nur aufseinen unmittelbaren Nutzen Rücksicht nehmen, sondern auch auf die Notwendigkeit, in jeder Handlung die Gesellschaft als solche zu bejahen. Denn das Leben des einzelnen in der Gesellschaft ist nur durch die Gesellschaft möglich, und jeder einzelne würde auf das schwerste geschädigt werden, wenn die in Brüche gehen würde. Der Fortbestand der Gesellschaft als Vereinigung der Menschen zur gemeinsamen Arbeit und Lebensführung liegt im Interesse jedes einzelnen; wer einen augenblicklichen Vorteil aufopfert, um den Fortbestand der Gesellschaft nicht zu gefährden, der opfert einen kleinen Vorteil einem grössern» (S. 30).

Aktuelle Traktandenliste

Das Inhaltsverzeichnis des nur 172 Seiten umfassenden Werks ist eine höchst aktuelle Traktandenliste liberalen Denkens und Handelns. Nach einer ideengeschichtlich ausgerichteten Einleitung folgt eine Übersicht über die Grundlagen liberaler Politik, bei denen die «Dreieinigkeit» «Eigentum, Freiheit und Frieden» an die Spitze gestellt werden. Das Kapitel über liberale Wirtschaftspolitik lässt uns ahnen, wie weit wir von den liberalen Zielvorstellungen entfernt sind und welch anspruchsvoller Weg noch vor uns liegt. Die konservative Formel «Liberalismus – nach wie vor» ist daher völlig verfehlt, eher zutreffen würde auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Handlungsbedarfs: «Lasst uns einen liberalen Anfang machen»… In verschiedenster Hinsicht erstaunlich ist die Aktualität des Kapitels über liberale Aussenpolitik. Was hier zum Thema «Staatsgrenzen», «Nationalismus» und «Vereinigte Staaten von Europa» schon 1927 Konstruktives und Kritisches formuliert worden ist, verdient auf dem Hintergrund der neuesten Entwicklung höchste Beachtung. Auch die beiden Kapitel über den Liberalismus und die politischen Parteien und die Zukunft des Liberalismus eignen sich als aufschlussreiche Lektüre. Vor allem die Liberalen in der Bundesrepublik mögen darin Ansporn und Trost finden – vor und nach den Wahlen.

ROBERT NEF


1 Ludwig von Mises. «Liberalismus». Nachdruck der Originalausgabe von 1927. mit einer Einführung von Hans-Hermann Hoppe, hrsg. von der Friedrich- Naumann-Stiftung. Academia Verlag. Sankt Augustin 1993.

SPLITTER

Jahr für Jahr schreiben Autoren in der ganzen Welt über Demokratie – über das Regierungssystem der repräsentativen Demokratie. Sie beklagen ihre Unzulänglichkeiten. Aber die Demokratie, die sie kritisieren, ist eine Demokratie, deren Politik vom Interventionismus beherrscht wird.

Ludwig von Mises, in: «Vom Wert der besseren Ideen», aus dem Amerikanischen. Poller Verlag. Stuttgart 1983. S. 104.

Schweizer Monatshefte – Heft 10, 1994 – Seite 17-20

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