(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1994 – Seite 5-8)
POSITIONEN
Die Sprache der politischen Philosophie ist voll von gewollten oder mindestens geduldeten Viel- und Mehrdeutigkeiten. In einer politischen Gemeinschaft sollen ja jene Begriffe, die Ideen bezeichnen, einen möglichst breiten Konsens zwischen ihren Befürwortern ermöglichen. In einer Demokratie wird es aber immer wieder dazu kommen, dass man die Begriffe, die der politische Gegner verwendet, so interpretiert, dass die Schwächen hervortreten – tatsächliche oder bloss unterschobene. Politik ist stets auch ein Streit mit Begriffen und ein Streit um Begriffe.
Abraham Lincoln hat solche Begriffskämpfe einmal als Rauferei zwischen zwei Betrunkenen bezeichnet, in welcher die Mäntel vertauscht werden. Schliesslich läuft jeder im Mantel des andern davon… Der mit politischer Publizistik vertraute Lincoln hat damit anschaulich auf ein sprachpsychologisches Phänomen aufmerksam gemacht, das später auch von Sigmund Freud in seinem Aufsatz «Vom Gegensinn der Urworte» beschrieben worden ist. Gewisse Worte können nicht nur einen einzigen konkreten Sinngehalt übermitteln, sie enthalten — je nach Situation – auch ihren Gegensinn, was die Möglichkeiten des spontanen Verstehens selbst innerhalb derselben Sprache erschwert und die Bedeutung des Umfelds der Kommunikation erhöht.
Raufereien zwischen polirischen Kontrahenten mit unterschiedlichen Kombinationen von ideologischer Trunkenheit und Nüchternheit gab und gibt es zu allen Zeiten in verschiedenen politischen Gemeinschaften und Sprachgruppen. Der erwähnte «Manteltausch» ist keine Ausnahme, und die politische Theorie muss immer wieder – oft mit zweifelhaftem Erfolg — terminologische Klärungen vornehmen. Es ist nicht erstaunlich, wenn dabei der Bedeutungswandel, besonders bei Lehnworten, die zunächst einmal in verschiedenen Sprachen gleiche oder ähnliche Bedeutung hatten, aufgrund unterschiedlicher politischer Entwicklungen zu unterschiedlichen, zum Teil sogar diametral entgegengesetzten Definitionen führt. Verwunderlich ist vielmehr, dass man diese rein terminologischen Übersetzungsprobleme oft nicht als solche erkennen will und mit einer inhaltlichen Meinungsverschiedenheit verwechselt. Der terminologische Manteltausch spielt sich in verschiedenen Sprachen weder gleichzeitig noch in gleicher Weise ab. Dies verursacht oft fast unüberwindliche Übersetzungs- und Verständigungsprobleme.
Ein eindrückliches Beispiel für den in verschiedenen Sprachen unterschiedlich verlaufenden Bedeutungswandel ist der Begriff Liberalismus. Wer sich in den USA als liberal bezeichnet, vertritt eine grundsätzlich andere Auffassung als etwa ein Liberaler in der Schweiz. Dies hat nicht nur mit dem traditionell weiten ideologischen Spektrum des Liberalismus zu tun, sondern hängt mit einem historisch lokalisierbaren «Manteltausch» in den USA zusammen. Was in den USA liberal genannt wird, ist nach unserer Terminologie sozialdemokratisch mit Staats- und interventionsgläubiger Tendenz. Selbstverständlich gibt es auch zwischen den verschiedenen liberalen Gruppierungen in Europa grundlegende und subtile Unterschiede, doch sind diese grösstenteils eher graduell. Die Liberalen in den USA unterscheiden sich aber prinzipiell von dem, was auf dem europäischen Festland als liberal bezeichnet wird. Der britische Liberalismus ist näher beim amerikanischen, aber die terminologische Kehrtwendung ist dort weniger klar situierbar. Es würde sich lohnen, bezüglich Liberalismus auch den Unterschieden des UK-englischen und US-englischen Sprachgebrauchs nachzugehen, aber diese Subtilitäten sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. Kritisch zu würdigen wäre in diesem Zusammenhang das Werk von John Stuart Mill.
Wer sich in den USA als «liberal» bezeichnet, vertritt eine grundsätzlich andere Auffassung als etwa ein Liberaler in der Schweiz.
Das Historische Wörterbuch der Philosophie (Bd. 5, Basel 1980) gibt unter dem Stichwort «Liberalismus» einen guten Überblick über die komplizierte Begriffsgeschichte. Für die Entstehung des Begriffs wird zunächst auf die Französische Revolution verwiesen. Noch älter ist der Gegensatz der Liberales und der Serviles in der spanischen Cortes. «Das Ziel des Liberalismus ist die freie Entfaltung des Menschen ohne Einwirkung rational nicht legitimierbarer Institutionen und Autorität in einem Staat, dem kein anderer Zweck zuerkannt wird, als der Selbstverwirklichung des Menschen zu dienen, indem er dessen Rechte schützt» (a. a.O., Bd. 5, S. 262). Die ideengeschichtlich entscheidende Frage betrifft die Rolle des Staates und seines Zwangsmonopols im Zusammenhang mit der Freiheit. Schützt er sie als Rechtsstaat und bleibt «Hort des Rechts» oder will er sie als Vorsorgestaat durch ein Netzwerk von Massnahmen und Eingriffen aktiv herbeiführen? Über den entscheidenden «Manteltausch» des Liberalismusbegriffs, der in den USA in der Zwischenkriegszeit stattgefunden hat, erfahren wir nichts Präzises. Der Erste Weltkrieg brachte auch in den USA eine Entwertung des Individualismus und Dezentralismus und eine bleibende Etablierung des Zentralismus, des Interventionismus und der nationalen Bürokratie, welche vor allem wegen ihrer Beliebtheit unter Akademikern unwiderruflich war. In den dreissiger Jahren bedeutet — so Robert Nisbet – Liberalismus in den USA «wenig mehr als die Förderung neuer Regierungsämter» «Die faszinierende Persönlichkeit Wilsons hatte die erste Schritte zur Veränderung des amerikanischen Liberalismus getan; die vielleicht noch schillerndere Person Franklin D. Roosevelts machte daraus einen dauerhaften Erfolg.» (Wie tot ist der Liberalismus? in: Der Monat, N. F., 286, 5. 92) Über die dadurch entstandene Begriffsverwirrung hat man in Europa und speziell im deutschsprachigen Raum zu wenig nachgedacht. Unter der Oberfläche des Konsenses innerhalb der «liberalen Grossfamilie» sind daher allzuviele Missverständnisse verborgen. Es gibt zu viel unreflektierte Toleranz, und diese geht zu Lasten der gemeinsamen Überzeugungskraft. Ich vermute, dass zahlreichen deutschen Neo- und Nachkriegsliberalen die hier beschriebene Kehrtwendung des Liberalismus in den USA und in Grossbritannien durchaus gelegen kam. Als Links-, Sozial- oder andere Bindestrich-Liberale deuteten sie den Verrat an den Grundideen als «notwendige Modernisierung» und hatten aus ihrer Sicht keine Motive, das Missverständnis aufzudecken.
Erstaunlich wenig wurde bisher ein weiteres terminologisches Problem der politischen Philosophie beachtet. Auch der heute in der europäischen Diskussion besonders aktuelle und brisante Begriff des Föderalismus verursacht aufgrund verschiedener ideengeschichtlicher und begriffsgeschichtlicher Zusammenhänge Verständnis- und Übersetzungsschwierigkeiten. Die in der Schweiz gebräuchliche Terminologie spielt dabei eine wichtige Rolle. In der ideengeschichtlich für unser Land hochinteressanten Zeit zwischen 1798 und 1848 standen sich in der Schweiz Partikularisten, Föderalisten und Unitarier gegenüber. (Die ideengeschichtliche Entwicklung ist durch die grundlegenden Untersuchungen von Alfred Kölz. Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte samt Quellenbuch, im Überblick hervorragend dargestellt und dokumentiert worden.) Diese Epoche der Schweizergeschichte ist im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess von höchsrer Aktualität, auch wenn vor einer direkten Übertragung unserer Erfahrungen auf die europäische Ebene gewarnt werden muss. Möglicherweise haben wir nämlich schon damals für die notwendige Liberalisierung einen zu hohen Preis an Zentralisierung bezahlt…
Der Föderalismus spielt auch in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle, doch war die politische Auseinandersetzung vom Gegensatz der Föderalisten und der autonomistischen (in späterer Zeit auch sezessionistischen) Anti-Föderalisten geprägt. Für unitarische Projekte rehlte der Sukkurs, d. h. es gab keine politisch bedeutsame Gruppierung, die sich für einen amerikanischen Zentral- und Einheitsstaat einsetzte.
Die Föderalisten in der Schweiz waren und sind daher in ihrem Gegensatz zu den Unitariern antizentralistisch eingestellt und damit für kantonale Autonomie im Rahmen des Bundes, während die federalists — wörrlich übersetzt die «Bündler» – (in den berühmten Federalist Papers von Hamilton, Madison und Jay) gegen eine unbeschränkte Autonomie der Gliedstaaten in einem lockeren Staatenbund und für eine starke bundesstaatliche Zusammenarbeit mit wichtigen Kompetenzen beim Bund, also zentralistisch argumentierten. Es gibt beim Begriff des Föderalismus keinen eigentlichen terminologischen «Manteltausch», aber zwei wesentlich verschiedene historische Ausgangslagen. Eine bis heute aktuelle Rolle spielt die Unterscheidung von Staatenbund (confederation) und Bundesstaat (federation), wobei eben die federalists einem Bundesstaat gegenüber einem Staatenbund den Vorzug geben und demnach das Gemeinsame, Zentrale in den Mittelpunkt stellen. Die confederalists vertreten hingegen jene Tendenz, die für eine grosse Eigenständigkeit der Bündnispartner optiert.
Die federalists geben einem Bundesstaat (federation) gegenüber einem Staatenbund (confederation) den Vorzug, vertreten also zentralistische Tendenzen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der bundesdeutschen Verfassungsdiskussion eine Föderalismusdebatte, die mit der schweizerischen Debatte des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist und wohl auch von ihr beeinflusst war. Wie in der Schweiz ging es um drei idealtypische Optionen, bei denen die föderalistische eine vermittelnde Rolle spielte. Anders liegen die Verhältnisse in der derzeitigen Diskussion um die Europäische Union. Zur Debatte stehen konföderale und föderale, d.h. staatenbündische und bundesstaatliche Optionen, während ein europäischer Zentralstaat bisher – glücklicherweise – kein Thema ist. Wir tun daher gut daran, uns an den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch zu erinnern, und wie Margaret Thatcher und John Major das föderalistische Element als eine Intensivierung und nicht als eine Relativierung der zentralen bundesstaatlichen Elemente in Europa zu deuten. Der Hinweis auf einen «föderalistischen Aufbau» ist in Europa kein Grund zur Beruhigung für jene, welche eine möglichst grosse Eigenständigkeit und einen möglichst umfassenden Minderheitenschutz im Rahmen der Gemeinschaft anstreben. Föderalisten sind die «Bündler», die «Bundesstaatler» die angesichts eines staatenbündisch-bundesstaatlichen Mischgebildes in Europa eher zentralisierende Tendenzen vertreten. Für uns Schweizer ist dieser Sprachgebrauch zwar ungewohnt, aber von der Begriffsgeschichte her muss er einleuchten.
Beinahe unbeschränkte Möglichkeiten des Missverstehens bietet der Begriff des Konservativismus (in Anlehnung an das Englische oft auch Konservatismus genannt). Hier gibt es kaum einen terminologischideologischen «Manteltausch» festzustellen. Es ist vielmehr der historische Wandel, der dazu führt, dass man ohne genauere Angaben eigentlich nie mehr eindeutig sagen kann, welche Strukturen bzw. welche Werte ein Konservativer konservieren will. In der politischen Auseinandersetzung führt dies dazu, dass der Begriff kaum mehr bedeutet als ein Mantel, der allen möglichen und unmöglichen Trägern umgehängt werden kann. Eine an der Wortgeschichte anknüpfende Erklärung ist daher heute kaum mehr möglich. Wer sind heute in der ehemaligen Sowjetunion die Konservativen? Konsequenterweise müsste man – wie dies etwa in der «NZZ» gebräuchlich ist – die Anhänger des alten Sowjetregimes als konservativ bezeichnen, weil sie einen «ursprünglichen Zustand» wiederherstellen möchten. Umgekehrt hätte man dann aber Mühe, Margaret Thatcher in diesem wörtlichen Sinn als konservativ zu bezeichnen, da ja ihr ganzes Programm auf eine schrittweise und grundlegende Veränderung der britischen Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet war. Sie hat ja auch tatsächlich vieles verändert, und ihre historischen Verdienste werden heute noch zu wenig gewürdigt. Vollends paradox wird der am Wortsinn anknüpfende Sprachgebrauch von «konservativ», wenn sich etwa der für seinen unerschrockenen Reformkurs zu Recht berühmte tschechische Ministerpräsident Vaclav Klaus als «konservativ» bezeichnet, obwohl sein Programm darin besteht, von den alten politischen und wirtschaftlichen Strukturen in seinem Land möglichst nichts zu konservieren, sondern auf der Basis der Marktwirtschaft alles neu zu schaffen.
Es fällt bei allen Bedenken schwer, den traditionsreichen Begriff aufgrund der heutigen Umbruchsituation und aufgrund des umfassenden Reformbedarfs bei ganz und fast bankrotten sozialstaatlichen Systemen einfach für wertlos zu erklären. Wer davon ausgeht, dass die Freiheit des Individuums, die Privatautonomie und die spontane Ordnung des Marktes ihrem Wesen nach in der Natur des Menschen liegen – wenn man diesen nur in Ruhe lässt — und dass der Staat in erster Linie Rechte schützen und im übrigen möglichst nicht schaden sollte, kann mit gutem Recht von einem «harten Kern» von Grundwerten reden, die es in erster Linie zu konservieren oder eben wiederherzustellen gilt. (Der liberale Skeptiker fragt sich allerdings, ob es jene glücklichen Zeiten, in denen diese Werte im Zentrum standen in der Geschichte je gegeben hat.) Konservative im erwähnten freiheitsfreundlichen Sinn wären also gegenüber allen Veränderungen, welche schädliche Beeinflussungen dieses menschlichen und mitmenschlichen Kernbereichs abbauen, aufgeschlossen. Konservativ ist für viele – und wohl mit guten Gründen – das was die britischen Konservativen unter Margaret Thatcher angestrebr haben: Schutz der Freiheitsrechte, Garantie des Privateigentums und freie Marktwirtschaft durch einen geordneten Rückzug aus der Sackgasse des Sozialstaats… Ob der Veränderungsbedarf, der in Europa angesichts solcher Ziele manifest ist, mit dem Begriff «konservativ» adäquat zum Ausdruck kommt, ist allerdings mehr als fraglich.
ROBERT NEF
Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn. J. W. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, 2. Teil. Kap. 4
Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Karl Kraus
Unter sich verändernden realhistorischen und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen kann die Identität der Texte nie erhalten bleiben, sie gewinnen neue und verlieren alte Sinndimensionen, und zwar in der Regel so, dass sich diese Änderungen nicht expressis verbis behaupten, nicht gestalthaft ausbilden, sondern durch den veränderten Rezeptionsrahmen, durch bis dahin unbestimmte Konnotationen desselben Wortmaterials und Formenrepertoires evident werden.
O. Lorenz: Formadaptation und Obersetzungsgeschichte. In: Keller übersetzen. Traduire Keller. (Travaux du Centre de traduction littéraire de Lausanne No 13, S.33)