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Europäisches Deutschland

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1994 – Seite 1)

EDITORIAL

Von Max Kohnstamm, dem achtzigjährigen Vorkämpfer und Vordenker für die europäische Einigung, stammt der scharfsinnige Hinweis, dass die Alternative zu einem europäischen Deutschland kein deutsches Europa sei, sondern ein Europa gegen Deutschland. Er erinnert damit 50 Jahre nach dem D-Day an eine historische Situation und macht auf gegenwärtige Ängste aufmerksam, die im Zusammenhang mit dem EU-Vorsitz da und dort aufkeimen.

Das vereinigte Deutschland hat nach 1989 seine historische Stellung der Mitte wieder erlangt und macht einmal mehr die Erfahrung, dass in der Mitte oft nicht die Wahrheit zwischen Widersprüchen liegt und auch nicht die Lösung, sondern das Problem. «It is hard to stand firm in the middle», schrieb Ezra Pound aufgrund schmerzlicher eigener Erfahrungen in seinen «Cantos».

Es ist kein Zufall, wenn immer wieder von der deutschen Zerrissenheit die Rede ist, vom deutschen Dilemma zwischen seiner Bindung an den Westen und seinem Drang nach Osten. Eine ausgewogene Kombination dieser beiden traditionellen Strebungen ist für Europa sicher eine zukunftsträchtige Option, jedenfalls zukunftsträchtiger als der zwar in Deutschland entstandene, aber dort auch weitgehend überwundene Mythos von der «Festung Europa». Die Abschirmung durch Wälle und Mauern führt schliesslich nur zur Verstärkung von Hochmut und Angst. Deutschland baut heute Brücken statt Mauern und hat damit die Zeichen der Zeit erkannt. In ganz Europa muss der gefährliche Mythos des Nationalismus, die prinzipielle Abwehr alles Fremden und die blinde Überhöhung alles Eigenen überwunden werden, ohne dass die herkömmlichen Nationalstaaten, die sich im friedlichen Wettbewerb messen, «wegharmonisiert» werden. Europa kann aus den deutschen Erfahrungen im Umgang mit Zerrissenheiten und Zwiespälten wichtige Lehren ziehen. Gestützt auf die beiden ideellen Pfeiler «Offenheit» und «Vielfalt» kann es zur tragfähigen Brücke werden zwischen Ost und West, Süd und Nord: ein Brückenkopf der Freiheit — auch im globalen Umfeld.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1994 – Seite 1

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