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Kein Ende der Gewalt

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 4, 1994 – Seite 1)

EDITORIAL

Über den Ursprung der Gewalt gibt es vielfältigste Theorien und auch zahlreiche Mythen. Die Psychoanalyse geht von einem in der «Urhorde» inszenierten Vatermord aus: Gewalt als «Aufstand der Söhne» gegen väterliche Macht und Autorität. Nach dem «Alten Testament» ist der Brudermord von Kain und Abel die erste zwischenmenschliche Gewalttat: Gewalt als Folge des Neides und der Konkurrenz — interessanterweise nicht mit dem Motiv des «Brotneides», sondern als religiös motivierter Streit um die Ehre gottväterlicher Zuneigung: der Ursprung aller Religions- und Bruderkriege um Vorrang und Vormacht. Damit ist vielleicht auch die Frage nach dem «Ende der Gewalt» beantwortet. Freiheit gegenüber Herrschaftsansprüchen, Gleichheit gegenüber Vormacht und Vorrang, und Brüderlichkeit gegenüber Neid und Intoleranz sind offensichtlich ohne Gewalt nicht zu erlangen bzw. zu verteidigen. «AufNeid und Hass ist Verlass», heisst es im Sprichwort, das anthropologische und politologische Befioide vorwegnimmt oder ersetzt. Ein «Abschied von der Gewalt» wäre also erst möglich, wenn alle Ansprüche an Herrschaft und Vorrang und alle Gründe für Neid und Hass aus der Welt geschafft wären. Wenn es schon kein Ende der Gewalt gibt, so hoffen wir, dass es doch gegenüber allen Formen der Gewalt Grenzlinien gibt, denn schrecklich ist Gewalt vor allem, wenn sie schrankenlos wird. Gegenüber Gewalt hilft in zahlreichen Fällen nur Gegengewalt, und wir stehen vor der Wahl, Gewalt zu erleiden oder Gegengewalt zu üben.

Krieg und Genozid in Bosnien haben unter den Gegnern militärischer Gewaltanwendung eine interne Diskussion ausgelöst, und bemerkenswerterweise wird auch das Schuldigwerden des gewaltsam Eingreifenden gegenüber dem Schuldigwerden des tatenlos Duldenden und Zu- bzw. Wegschauenden politisch und ethisch anders bewertet als beispielsweise im Golfkrieg. Gegengewalt – auch militärische — steht heute als ethisch gebotenes Prinzip zur Gewaltbegrenzung wieder höher im Kurs. Für die getöteten, vergewaltigten und vertriebenen Menschen in Bosnien kommen solche Einsichten allerdings zu spät.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 4, 1994 – Seite 1

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