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Dörfer unter Druck

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1994 – Seite 1)

EDITORIAL

Gottfried Keller beginnt sein «Lob des Herkommens» im «Grünen Heinrich» mit dem Satz: «Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe.» In der heutigen Schweiz sind es nicht mehr unsere Eltern, sondern allenfalls unsere Gross- und Urgrosseltern, die vom Dorf in die Stadt oder eben in die Agglomeration gezogen sind, wobei eine — oft verklärte – Erinnerung an die dörfliche und bäuerliche Gemeinschaft bestehen bleibt, an jene bodenständige Welt, in welcher die Erde des Gottesackers «buchstäblich aus den Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter» besteht, und in der es unmöglich ist, «dass…ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat». Mit diesem eindrücklichen Bild wird der Kreislauf von Leben und Tod angedeutet, der so dauerhaft und verlässlich ist («nachhaltig» — würde man heute sagen), dass Keller nach einem Hinweis aufdie bewegte Dorfgeschichte getrost feststellen kann: «Aber das Dorfsteht noch da, seelenreich und belebter als je.»

Steht es noch da? Oder wurde es durch die kreislauffeindliche urbane Dynamik des 20. Jahrhunderts buchstäblich erdrückt?

Der Rechtshistoriker und Rechtssoziologe Karl Siegfried Bader, ein bedeutender Erforscher und Kenner der dörflichen Rechtskultur hat einmal bemerkt, in der Schweiz gebe es nicht nur die «Verstädterung des Landes», sondern auch die «Verländlichung der Stadt», was sich beispielsweise beim durchaus nicht urbanen frühen Arbeitsbeginn zeige. Satirisch kommentiert wird dieser etwa auch im Bonmot «Les Suisses se lèvent tôt, mais ils se réveillent tard.» Man hat die Agglomerationen in der «Bandstadt Schweiz» mit guten Gründen auch schon als Kombination der Nachteile von städtischen und ländlichen Siedlungs- und Lebensformen bezeichnet. Diese Gefahr ist real, aber wo Risiken sind, gibt es auch Chancen, denn nichts hat nur Nachteile, und auch Vorzüge könnten ja kombiniert werden. Warum denn eigentlich nicht?

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1994 – Seite 1

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