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Jelzin und der Leviathan

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 12, 1993 – Seite 965-967)

BLICKPUNKTE

«Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, dass du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst. Auf diese Weise werden alle einzelnen zu einer Person und heissen Staat oder Gemeinwesen. So ensteht der grosse Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben.» (Thomas Hobbes, Leviathan, 1651)

Mit der Ankündigung, sich keiner demokratischen Bestätigung im Rahmen einer Volkswahl zu unterziehen, dafür aber die Macht der Staatsführung zeitlich durch einen verbindlichen Rücktrittstermin zu limitieren, hat Präsident Jelzin einen Entscheid von grosser grundsätzlicher Tragweite gefällt. Die Kommentare sind unterschiedlich ausgefallen. Während die einen in diesem Schritt einen klugen Schachzug eines mit allen Wassern gewaschenen Technikers der Macht sehen und die berechtigte Angst vor einem Fiasko in einer Volkswahl als Hauptmotiv darstellen, steht für die andern eine realpolitisch nüchterne Optimallösung im Vordergrund, vielleicht die einzige, die dem politischen Chaos des zerbröckelnden Imperiums angemessen Rechnung trägt. Jelzin, der raffinierte Machttechniker, der «schlaue Fuchs», der unter dem Schlagwort «Demokratie» an die Macht kam und diese schliesslich autokratisch stabilisierte, oder Jelzin, der nüchterne Realpolitiker, der den Zustand seines Landes richtig einschätzt und der im Sinne echter leadership ohne Rücksicht auf Popularität das Spannungsfeld innenpolitischer Anfechtung und aussenpolitischer Anerkennung im Dienste seines Landes bestmöglich ausnützt: Dies sind die zwei Pole, zwischen denen sein Charakterbild «im Urteil der Geschichte» wohl noch lange schwanken wird.

Jelzins Aufstieg zur Macht stand ganz im Zeichen der Demokratie, und seine Anerkennung im Westen, insbesondere in den USA, ist grösstenteils auf seine demokratische Legitimation zurückzuführen. «Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft», das war die Dreieinigkeit, auf die sich alle Hoffnungen des Westens stützten, als der Ostblock sich auflöste, und der Name Jelzin war einer der Hoffnungsträger.

Nicht alle waren nach dem Fall der Berliner Mauer von diesem Hoffnungsrausch befallen, und je realistischer schon damals die Einschätzung war, desto kleiner ist heute die Ernüchterung. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Dreieinigkeit von Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft sich kaum je von selbst einstellt und dass sie nicht so spannungsfrei und dauerhaft ist, wie wir es gerne hätten. Insbesondere die Harmonie zwischen Marktwirtschaft und Demokratie wirft bei einem Transformationsprozess Probleme auf. Natürlich wissen wir, dass eine demokratische Staatsform, in welcher der politische Wettbewerb um die Macht stets offen bleibt und damit diese Macht entgiftet, eigentlich das politische Korrelat des ökonomischen Wettbewerbs ist, und dass die beiden Wettbewerbe am besten funktionieren, wenn man sie kombiniert. Was geschieht aber dann, wenn eine freiheitliche, auf Marktwirtschaft ausgerichtete Politik nicht – bzw. noch nicht oder nicht mehr – mehrheitsfähig ist?

Der Weg aus der «ägyptischen Knechtschaft» unter den sowjetischen «Pharaonen» ins «gelobte Land» der Freiheit führt durch eine Wüste, und er strapaziert die Geduld aller Betroffenen und Beteiligten. Es braucht wohl mehr als eine einzige Generation, um ans Ziel zu gelangen. Eigentlich ist es kein Wunder, wenn das Volk murrt und seiner Führer überdrüssig wird. Können in einer solchen Situation demokratische Entscheidungen weiterhelfen? Wurden die Zehn Gebote in einer Volksabstimmung angenommen? Taugt Demokratie in Notsituationen? Man darf sich die Antwort auf solche Fragen nicht zu leicht machen und vorschnell für autoritäre Regierungsformen plädieren. Irgendein Notstand, der nach einem Retter ruft, liesse sich nämlich immer und überall finden. Die Autorität einer Person soll die Autorität selbstbestimmter und limitierter Gesetzgebung nur in wirklichen Notzeiten ersetzen. Es gehört zu den Charakteristiken guter Führer, dass sie nicht die unbeschränkte Macht, sondern die Idee des Bündnisses ins Zentrum stellen und letztlich doch die Akzeptanz «auf Gegenseitigkeit» anstreben. Die Überwindung der Anarchie und des Chaos durch den «Leviathan», das gebändigte Ungeheuer des Staates, ist nicht die Aufgabe eines mächtigen Despoten, sondern eine gemeinsam erteilte und sachlich begrenzte Ermächtigung.

Der eingangs zitierte Thomas Hobbes schrieb seinen «Leviathan» unter dem Eindruck der Religionskriege und der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wirren vor dem Westfälischen Frieden. In seinem Buch über den Bürger findet sich das berühmte Plautus-Zitat, nach dem der Mensch dem Menschen als Wolf begegnet und primär einmal feindlich gesinnt ist (homo homini lupus). Ob das durchaus solidarische und hierarchisch geordnete Verhalten in einem Wolfsrudel damit zutreffend erfasst sei, wird heute zu Recht bezweifelt, und der Satz ist letztlich eine Beleidigung für die Wölfe… Für die Beschreibung einer Ausgangssituation, eines historischen worst case, wie wir ihn beim Zusammenbruch eines Systems antreffen, ist er aber durchaus geeigneter als beispielsweise Rousseaus pädagogischer Optimismus und seine Idealvorstellung von einer in unverdorbenem Zustand ursprünglich guten Natur gleicher und frei geborener Menschen mit einem angeborenen Talent zur Gemeinschaft.

Chaotische, von wechselseitigem Misstrauen geprägte gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände sind sowohl für eine Demokratie als auch für eine Marktwirtschaft denkbar ungünstige Voraussetzungen. Es ist wohl kein Zufall, dass die auf Frieden und Rechtsschutz aufbauende pessimistische Staatstheorie von Thomas Hobbes zeitlich vor der auf Vertrag, Eigentum und Freiheit aufbauenden Theorie eines John Locke entwickelt worden ist. Bei Locke finden wir auch die für den Liberalismus und für die Marktwirtschaft entscheidende Funktion des Lernens. Der demokratische Idealist und Utopist Jean-Jacques Rousseau gehört dem optimistischen 18. Jahrhundert an. Er traute allerdings selber seinem Optimismus nicht und bezeichnete die von ihm postulierte Spielart der radikalen direkten Demokratie als eine «Staatsform für Götter».

Boris Jelzin kennt die Politik nicht aus der Optik staatsphilosophischer Theorien. Er weiss aber, dass die Menschen keine Götter und nicht einmal Engel sind. Wenn er sich heute – wohl instinktiv – eher auf Hobbes als auf Rousseau abstützt, so ist er in der Wüste des russischen Chaos dem richtigen Wegweiser gefolgt. Da er die Zeit seiner demokratisch fragwürdig legitimierten Regierung selber limitiert hat, bleibt die Hoffnung, dass allenfalls seine Nachfolger auch John Lockes Wegweiser zum «gelobten Land» des liberalen Rechtsstaats beachten werden. Aber vielleicht ist diese Hoffnung schon allzusehr vom historisch kaum begründeten utopischen Optimismus eines Rousseau inspiriert.

Robert Nef

Schweizer Monatshefte – Heft 12, 1993 – Seite 965-967

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