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Der andere «dritte Weg»

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 10, 1993 – Seite 776-779)

BLICKPUNKTE

Die Wunschvorstellung, dass es zwischen der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft (d. h. zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Sondereigentum und Gemeineigentum) einen «dritten Weg» gebe, der die Vorteile des einen Systems mit den Vorteilen des andern verbindet und die Nachteile vermeidet oder vermindert, existiert seit über hundert Jahren. Das Denkmuster, das dahinter steckt, reicht in die Anfänge der Philosophie zurück: der alte Traum vom «goldenen Mittelweg», von der Synthese, in welcher These und Antithese aufgehoben sind. Die intellektuelle und politische Anziehungskraft dieses Problemlösungsmusters ist grösser als seine Produktivität. Oft geht es wie im Scherzlied «der eine hinten, der andere vorn, doch keiner in der Mitte, man merkt, es fehlt der Dritte…» Die Frage nach dem Dritten in der Mitte hat nur einen Sinn, wenn die Mitte im Verhältnis zu etwas gesetzt wird, und beim Versuch, produktive Gegensätze einander gegenüberzustellen, wird meist sehr schnell klar, dass nicht die Wahrheit in der Mitte liegt, sondern das Problem…

Dies erklärt auch, warum trotz hoher Konstanz in den Gegenüberstellungen die jeweiligen «Wunderrezepte» für «dritte Wege» ausserordentlich variabel und kurzlebig sind. Es sei hier nur kurz daran erinnert, dass der Ständestaat (in seiner faschistischen und seiner nationalsozialistischen Ausprägung) sich als «dritter Weg» verstand und präsentierte. Die politisch vollzogene Organisation der Stände, insbesondere der Unternehmer und Arbeiter, wollte einen neuen Staat aufbauen, der die Welt von Kapitalismus und Liberalismus einerseits und von Sozialismus und Kommunismus andererseits befreien sollte. Gleichzeitig wollte man auch andere Formen von «dritten Wegen», wie Etatismus auf parlamentarischer Basis, Interventionismus und Bürokratismus überwinden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat vor allem das «jugoslawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung» und das von Ota Šik in den frühen siebziger Jahren propagierte, heute aber bis an die Grenze des Widerrufs modifizierte Modell einer volkswirtschaftlichen Globalsteuerung mit marktwirtschaftlichen Meso- und Mikrostrukturen die «Drittwegsucher» fasziniert.

Nach der Öffnung des eisernen Vorhangs trat eine weitere Spielart des «Drangs zur Mitte» in Erscheinung. Eine neue Welle der Europa-Begeisterung führte zu einem erstarkten Bewusstsein der Mitte: Das wiedervereinigte Europa, das eine neue Mitte findet zwischen dem «asiatischen Kollektivismus und Despotismus» und dem «exzessiven Individualismus, Kapitalismus und Konsumismus Amerikas…». Diese Grundstimmung prägte die Maastrichter Verträge und die Konferenz von Paris, und sie können als ungute Vorzeichen eines aufkeimenden antiamerikanischen und antijapanischen Europrotektionismus gedeutet werden. Vertreter von ehemaligen Ostblockländern stürzten sich auf diese attraktive Quelle neuen Selbstbewusstseins und zimmerten sich eine Popularfassung wirtschaftspolitischer Grundsätze zurecht: Das «rheinische Modell» einer «sozialstaatlich gezähmten» Marktwirtschaft, die populäre Interventionen à la carte zulässt, Umverteilung über Steuern und Sozialversicherung vornimmt und eine Kombination von marktwirtschaftlicher Rhetorik mit politischmoralisch verbrämten Appellen praktiziert – sei es in der französischen oder in der bundesdeutschen Spielart oder in irgendwelchen Benelux-Mischungen. Das sogenannte «rheinische Modell» wird auch immer wieder erfolgreich mit antiamerikanischer Spitze propagiert etwa nach dem fatalen Muster: «Die Sowjetunion mit ihrem Sozialismus hat nicht funktioniert und endete im wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die USA mit ihrem Kapitalismus haben auch nicht funktioniert und stecken im sozialen Chaos der Cowboy-Ökonomie, der Ellbogengesellschaft, der zunehmenden Ungleichheit, des Gruppenterrors und der Verslumung in der Zweidrittelsgesellschaft. Lasst uns also einen ‹dritten Weg› suchen, der diese Extreme meidet…»

Das «schwedische oder skandinavische Modell des Wohfahrtsstaates» genoss bei europäischen Intellektuellen und sozialpolitischen Populisten aller Parteien noch vor dem sogenannten «rheinischen Modell» höchstes Ansehen. In letzter Zeit ist es etwas stiller geworden, und man beginnt zu realisieren, dass das Modell gescheitert ist. Das Ausmass dieses Scheiterns und die finanziellen «Altlasten», die es für kommende Generationen hinterlässt und gegebenenfalls in die EG «einbringt», sind erst im eigenen Land ein Thema.

Kürzlich hat die angesehene «Timbro»-Stiftung, ein in Stockholm domizilierter liberaler und marktwirtschaftlicher «Thinktank», eine internationale Tagung zum Thema «Wohlfahrtsstaat» organisiert. Von schwedischer Seite wurde scharfe und mit zahlreichen Beispielen empirisch gut untermauerte Selbstkritik geübt. Dass ein Land, in dem der Staat fast drei Viertel des Bruttoinlandproduktes für den Betrieb seiner Wohlfahrtseinrichtungen beansprucht, in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, braucht hier nicht weiter dargelegt zu werden. Langfristig gesehen dürften die finanziellen Probleme aber durch die sozialen Probleme des Zerfalls der Selbstverantwortung und der familiären und mitmenschlichen Hilfs- und Unterstützungsbereitschaft noch übertroffen werden. In keinem Land der Welt ist der Anteil derjenigen Menschen, die beispielsweise eine individuelle Mitverantwortung für alte und kranke Eltern schlichtweg ablehnen, so hoch wie in Schweden, nämlich über ein Drittel. Der Sozialstaat hat also in Kombination mit einem relativ hohen Lebensstandard nicht nur die Selbstverantwortung, sondern auch die zwischenmenschliche spontane Solidarität und Hilfsbereitschaft massiv schrumpfen lassen, und niemand kennt das Rezept, wie dieser Trend gewendet werden kann. Dies gilt für das «schwedische Modell» ganz allgemein. Die Analyse und die gehaltvolle und oft auch mit selbstkritischem Humor vorgetragene radikale Kritik steht in höchster Blüte. Antworten, wie ein post-wohlfahrtsstaatliches Schweden auszusehen hätte, sind in Ansätzen ebenfalls vorhanden, wenn auch bei weitem noch nicht konsensfähig. Von einer wirtschaftlichen und politischen Strategie, wie vom jetzigen Zustand ein Übergang zum erwünschten Zustand zu schaffen wäre, ist – wenigstens von Aussenstehenden – noch nichts zu erkennen; das Problem eines praktikablen Modells für die Transformation bleibt ungelöst. Die Frage, ob ein EG-Beitritt die notwendige Radikalkur beschleunigen oder bremsen würde, ist selbst innerhalb von «Timbro» umstritten. Die ältere Generation scheint die Chancen eines Beitritts höher einzuschätzen als die jüngere, welche in der Brüsseler Bürokratie und in den interventionistischen Euro-Programmen schon allzuviel Ähnlichkeiten mit dem eigenen gescheiterten Modell sehen und die globale Öffnung nach den Regeln des Gatt bevorzugen würden.

Die interessanteste Erfahrung an dieser Tagung war aber die Begegnung mit einer neuen Generation von liberalen «Think-Tankern» aus dem ehemaligen Ostblock, speziell aus dem Baltikum. Sicher handelt es sich um kleine Eliten, die keine breite parteipolitische Abstützung haben. Ihre neueste Version eines «dritten Wegs» ist die radikale und kompromisslose und vor allem auch unverzügliche Zulassung der Marktwirtschaft und die Reduktion staatlicher Strukturen auf das minimal Notwendigste, wie sie etwa Ludwig von Mises und in jüngerer Zeit der anarcho-libertäre Murray Rothbard vertreten haben.

Der Staat ist nur noch für die Garantie der Freiheitsrechte und insbesondere des Privateigentums und für die Gewährleistung der Sicherheit gegenüber Rechtsbrechern zuständig. Die ganze leistungsstaatliche Infrastruktur wird privatisiert und finanziell von den Benutzern getragen, ebenso die Zivilgerichte. Der Sozialstaat wird durch spontane und privat organisierte Selbsthilfe ersetzt. Beamtenapparat und Steuern sollen verfassungsrechtlich streng und unabänderlich plafoniert werden. Das notwendige Minimum an Regierung soll so lokal und so limitiert wie möglich sein, ein diplomatisches Korps und ein aussenpolitischer Apparat ist überflüssig. Öffentliche Ausgaben für Wirtschafts- und Sozialpolitik entfallen – die Notwendigkeit von subsidiären staatlichen Investitionen und Zuschüssen in den Bereichen «Gesundheit» und «Bildung» ist Gegenstand interner Diskussionen wie auch die Notwendigkeit einer Armee als aussen- und innenpolitisches Machtmittel.

Angesichts der Radikalität solcher Programme für einen «dritten Weg» kann man unschwer erraten, dass alles, was wir in Westeuropa und auch in den USA an marktwirtschaftlich-sozialstaatlichen Mischsystemen praktizieren, kaum mehr als Vorbild und als Alternative zur bisherigen Plan-Korruptions-Pump- und Schrottwirtschaft empfunden wird. Auch die USA und die Schweiz stecken aufgrund ihrer Staatsquoten und ihrer Beamtenheere gemessen an solchen Idealvorstellungen tief im Sumpf des Interventionismus und Bürokratismus. Sie befinden sich nach dem kritischen Urteil der zornigen jungen Libertären auf der abschüssigen und gefährlichen Bahn des sozialstaatlichen Populismus, aus dessen Teufelskreis es in einer Demokratie kaum ein Entrinnen gibt. – Kein Wunder also, dass die Zeit – glücklicherweise – vorbei ist, in der sich selbsternannte politische und wirtschaftliche «Experten» aus dem Westen im ehemaligen Ostblock mit ein paar Schlagworten wie «soziale Marktwirtschaft» und «Demokratisierung» als Freiheitsapostel aufspielen konnten.

Man mag diese radikalen marktwirtschaftlichen Konzepte utopisch und naiv finden und sich darüber wundern, dass ausgerechnet auf dem intellektuellen Komposthaufen der bankrotten Planwirtschaft die Wurzeln so schnell bis in die fruchtbaren Schichten liberaler und libertärer Klassiker vorgedrungen sind. Vielleicht waren unsere marktwirtschaftlich-interventionistischen Mischformen und Kompromisse, mit denen wir uns in der «ersten Welt» in diesem Jahrhundert in verschiedensten Spielarten durchgewurstelt haben, nicht – wie wir glaubten – die zukunftstaugliche Alternative zur sozialistischen Planwirtschaft, sondern lauter provisorische, wenig taugliche Versuche mit problematischen «dritten Wegen». Wir tun gut daran, die neuen libertären Strömungen im ehemaligen Ostblock ernst zu nehmen, auch wenn sie erst in kleinen Eliten diskutiert werden und die Chancen einer baldigen Realisierung klein sind. Sie dürften im Moment immerhin grösser sein als bei uns, und es ist durchaus denkbar, dass sich dieser «andere dritte Weg» als zukunftsträchtigste Alternative zu den wirtschaftspolitischen Irrtümern des 19. und 20. Jahrhunderts entpuppt.

Robert Nef

Schweizer Monatshefte – Heft 10, 1993 – Seite 776-779

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