Zum Inhalt springen

Sarajewo – Prüfstein des Zusammenlebens

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1993 – Seite 688-690)

BLICKPUNKTE

Grössere gesellschaftliche Zusammenschlüsse wie Staatenbünde, Bundesstaaten und Staaten ganz allgemein sind nur sehr bedingt vergleichbar mit kleinen persönlichen Gemeinschaften und Partnerschaften. Und doch gibt es Analogien die hilfreich und nützlich sind. «Es ist der Staat die Ehe unter Bürgern» heisst es bei Franz Grillparzer. Vielleicht ist er als Bürger der Donaumonarchie zu diesem Vergleich inspiriert worden, denn der «Vielvölkerstaat» ist ja – wenigstens zum Teil – von den Habsburgern «erheiratet» und nicht erstritten und erobert worden. Der Vergleich mit der Ehe als einem Bündnis, das auf Dauer angelegt ist und grundsätzlich nur durch den Tod geschieden werden kann, das aber auf einer Wahl als Willensakt und nicht auf den Tatsachen natürlicher Blutsbande beruht, ist ebenfalls aufschlussreich und für das nationalistische 19. Jahrhundert durchaus atypisch. Im Zentrum stand damals die bis heute noch wirksame Deutung des Staates als Vaterland, dessen Söhne und Töchter zur Liebe und Hingabe verpflichtet sind und die sich durch ein gemeinsames Erbe (Sprache, Kultur und «Volksvermögen») verbunden fühlen. Der republikanische Gedanke einer partnerschaftlichen Verbundenheit in gegenseitiger Treue war und ist zwar durchaus auch vorhanden, aber er ist kein wesentlicher Bestandteil nationalistischer Ideologie. Grillparzers Hinweis auf den Zusammenhang von Bürger, Staat und Ehe (auch im ursprünglichen Sinn des dauerhaften Rechts und Gegenrechts) ist noch aus einem dritten Grund bemerkenswert. Er selber ist ja im Bewusstsein der Problematik und Zerbrechlichkeit jeder endgültigen Bindung dem Entscheid zu einem Eheschluss lebenslänglich ausgewichen. Sein Vergleich von Staatsbürgerschaft und Ehe kann also auch als Zeichen gedeutet werden, wie schwierig das harmonische Zusammenleben in irgendwelchen Gemeinschaften stets ist und wie weit die Realität vom jeweils angestrebten und erhofften Ideal abweicht.

Beim Ausbruch und im Lauf des Ersten Weltkriegs zeigte sich die Brüchigkeit und die tiefe Zerrüttung, welche in der Donaumonarchie zur Scheidung der «Ehe unter Bürgern» führte. Ob diese folgenreiche Scheidung wirklich von innen heraus notwendig war, oder ob sie zu den historischen Fehlleistungen eines vom nationalistischen Wahn besessenen Europa zählt, bleibe hier dahingestellt. Es wurde damals auch sichtbar und spürbar, dass die romantisierende Vorstellung von politischen Systemen als Willensgemeinschaften, welche auf partnerschaftlicher Treue und auf gemeinsamen Interessen beruhen, nicht mit der Realität übereinstimmte. Die Grenzen sind eben in diesem Kontinent allzu oft nicht partnerschaftlich ausgehandelt, abgesprochen und akzeptiert worden. Vormächte und Siegermächte haben sie im eigenen Interesse und zur Abgrenzung von Macht- und Einflussbereichen über die Köpfe der wirklich Betroffenen und Beteiligten hinweg diktiert. Die politische Karte Europas ist kein Dokument des Konsenses, sondern ein Spiegel vielfältigster Machtstrukturen, die in Kriegen und Bürgerkriegen gewaltsam bestätigt und wieder in Frage gestellt worden sind. Dies sollten vor allem jene Optimisten zur Kenntnis nehmen, die heute und für alle Zukunft gewaltsame Konflikte um innereuropäische Grenzen für äusserst unwahrscheinlich halten. Das Bild vom «gemeinsamen Haus», in dem die ehemaligen Nationalstaaten in konfliktloser «Ehe unter Bürgern» dauernd zusammenleben und ihre blutige Vergangenheit vergessen ist gleichzeitig verlockend und utopisch.

Selbst die Schweizerische Eidgenossenschaft, die als politische und wirtschaftliche Willens- und Interessengemeinschaft am ehesten dem Bild der ohne äusseren Zwang geschlossenen «Ehe unter Bürgern» entspricht, hat den Verfassungskonsens von 1848 mit einem Bürgerkrieg erkauft, einem Konflikt, der glücklicherweise – und für Bürgerkriege durchaus atypisch – keinen hohen Blutzoll forderte. Die Grenzen des seinerzeitigen Sonderbundes decken sich nicht mit den wirklichen und vermeintlichen innenpolitischen Spannungsfeldern der Gegenwart, ein Zeichen für «geheilte Wunden» und ein Anzeichen (aber kein Beweis!) dafür, dass es im Laufder Geschichte Wege gibt, die vom Konflikt zum Konsens führen, und dass ein dauerhaftes partnerschaftliches Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen und Gemeinschaften nichts Unmögliches ist.

Vielleicht wollte Victor Hugo mit seiner Prophezeiung, die Schweiz werde in der Geschichte «das letzte Wort haben», darauf hinweisen, dass die kleinen politischen Gemeinschaften, die auf gemeinsamer Geschichte, auf gemeinsamem Willen und auf gemeinsamen Interessen beruhen, letztlich die zukunftstauglichsten sind («the most sustainable», würde man heute sagen …). Also doch: Der interessengestützte, von innen heraus gebildete Konsens, die in diesem Jahrhundert schon mehrmals in Frage gestellte und totgesagte «Ehe un¬ ter Bürgern» kann tatsächlich als tragfähige Basis von politischen Systemen gelten.

Der klassische Nationalstaat wollte und sollte eine Verbindung von Gleichartigen, Gleichgesinnten sein und entsprach als «Vaterland» dem Bild der blutsverwandten Familie und Sippe, die allenfalls noch einige nicht-verwandte Bedienstete integrierte. Demgegenüber ist die bewusst und im wechselseitigen Interesse eingegangene, auf Dauer angelegte Willensgemeinschaft unter Ungleichen, Nicht-Verwandten, aber Gleichberechtigten genossenschaftlich motiviert. Es sind äusserst vielfältige und heterogene Netzwerke von territorialen und personalen Verbänden und Verbindungen, eine letztlich undurchschaubare Konfusion (im ursprünglichen Sinn), welche solchen Partnerschaften trotz und wegen ihrer Verflechtung von Ideen und Interessen (Eid-Genossenschaft) ihre Stabilität und Immunität verleihen. In einer Eidgenossenschaft wächst nicht zusammen, was zusammengehört, weil es wesensgleich ist, sondern es wächst zusammen, was ursprünglich getrennt war und was trotz und wegen der Unterschiede zusammenbleiben will, weil es sich als förderlich und nützlich erweist.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die im Zeitalter des Nationalismus als ärgerliches Relikt aus den mittelalterlichen «Vorstufen» des Territorialstaates empfunden wurde, kann heute durchaus als erfolgreiches postnationalistisches Experiment gedeutet werden, ein Gebilde, das – im Gegensatz zum «Vielvölkerstaat» der Donaumonarchie – dem französischen, deutschen, italienischen, spanischen und zum Teil auch britischen und russischen Wahn der homogenen Nationenbildung, widerstanden hat. Dieser Wahn ist heute weltweit und europaweit keineswegs überwunden.

Bei den sogenannten Friedensplänen im ehemaligen Jugoslawien jagen Serben und Kroaten, unterstützt von hilflosen und wohlmeinenden europäischen Vermittlern (einmal mehr ist das Gut-Gemeinte Feind des Guten und Komplize des Übels), dem Phantom homogener Volksgruppen und Räume nach, Zuordnung von «Regio und Religio», von «Volk und Raum», von «Blut und Boden», ein Panorama von historischen Fehlleistungen unseres Kontinents! Das, was verschieden ist und kleinräumig schlecht und recht zusammenlebte, soll grossräumig getrennt und in neue Grenzen verwiesen werden, die mit Waffengewalt vorbereitet und am Konferenztisch ohne Rücksicht auf Beteiligte und Betroffene abgesegnet sind. Die Muslime in Bosnien, welche das Opfer eines Kampfes mit höchst ungleichen Waffen sind, werden nun auch noch zum Opfer der Friedensbemühungen: Ein grossangelegtes Deportationsprogramm mit dem Segen der europäischen Mächte und der Vereinten Nationen . . . Dies ist wohl die denkbar schlechtestmögliche Voraussetzung für einen bosnischen Staat im Sinn einer «Ehe unter Bürgern» bzw. einer Eid- Genossenschaft. Der einzige «Lichtblick» ist der Vorschlag, in Sarajewo das Experiment des Zusammenlebens bosnischer Muslime, Serben und Kroaten unter internationaler Aufsicht zu wagen. Was man im grösseren durch Trennung verhindert, nämlich das kleinräumige Zusammenleben trotz Unterschieden, die «Ehe unter Bürgern» bzw. die «Mischehe», soll auf lokaler städtischer Ebene in Sarajewo doch noch versucht werden. Ob ein Experiment, das im Zentrum einer Fehlkonzeption angesiedelt wird und dauernd unter den negativen Folgen dieses hirnwütigen Homogenisierungsprogramms der «ethnischen Säuberung» leiden wird, noch Erfolgschancen hat, wird die Zukunft weisen. Sicher können die Chancen erhöht werden, wenn man die notwendigen Lern- und Heilungsprozesse von äussern Einflüssen isoliert und die propagandistischen, konfliktschürenden Kräfte wenigstens zum Teil fernhält. Allzuhäufig haben in der Geschichte homogene Gruppen ihre kollektiven Makro-Probleme in heterogene kleinere Gruppen hineingetragen, die ohne diese Einflüsse von aussen, mit den eigenen Unterschieden im Mikro-Bereich durchaus fertig geworden wären. Als Beispiel dafür sei auf die Geschichte der Stadt Prag hingewiesen.

Sarajewo ist 1914 zum Symbol geworden für die Unfähigkeit der europäischen Mächte (mehrheitlich relativ homogene Nationalstaaten), Konflikte kleinräumig und durch Lernprozesse zu lösen. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht ein weiteres Mal zum Symbol wird für die europäische Unfähigkeit, Heterogenität und Vielfalt als Chance aufzufassen.

Robert Nef

Der gute Rat

«Haltet nur eure Nester gut in Ordnung, so seid ihr so glücklich, als euer Geschlecht nur immer werden kann.» Also sprachen die grossen Vögel zu der Schar der kleinen. Diese antworteten ihnen: «Was ihr sagt ist wahr; aber es ist kein Nest in Ordnung, zu dem ihr leicht kommen könnt; denn ihr esset gern Eier.»

Heinrich Pestalozzi (Fabeln)

Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1993 – Seite 688-690

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert