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Soll die Regierung führen?

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1993 – Seite 360-362)

BLICKPUNKTE

Auf der Traktandenliste einer Regierungsreform stehen zahlreiche kontroverse Postulate: Abschaffung des Proporz- und Konkordanzprinzips (Zauberformel), Relativierung der «Kantonsklausel», Einführung eines Geschlechterproporzes (Frauenquote), Erhöhung der Mitgliederzahl in der Landesregierung, Einführung von zusätzlichen Staatssekretären und andern Stabsorganen und Hilfsdiensten, Übergang zum Präsidialsystem, Übergang zum Konkurrenzprinzip (Regierung und Opposition) sowie Volkswahl des Bundesrates. Dieser bunte Strauss an mehr oder weniger populären Vorschlägen hat zahlreiche Variations- und Kombinationsmöglichkeiten, und dies verspricht vor allem eine lange Debatte. Die Erfahrungen, welche andere Staaten mit andern Systemkombinationen gemacht haben, bieten keine wirklich überzeugende Alternativen zum schweizerischen Regierungssystem. Die Gefahr ist also gross, dass bei allfälligen Reformen bestehende Mängel durch neue Mängel ersetzt werden. Die wesentlichsten Probleme können vielleicht durch eine institutionelle Reform des Systems, die im Bereich der Regierung ansetzt, gar nicht erfasst werden. Eine zentrale Rolle für das gute Funktionieren einer Regierung spielt wohl die persönliche Qualität der Regierenden.

Die zwei Fragen: «Wieviel Führung brauchen wir?» und «Wer soll uns führen?» hängen miteinander zusammen. Sie münden in die Grundsatzfrage nach der Führungsverantwortung im demokratischen Rechtsstaat. Sagt das Volk der Regierung (direkt oder via Parlament), was sie zu tun und zu lassen hat, oder sagt es die Regierung dem Volk oder regieren «die Gesetze»? Je nach dem präsentiert sich die Regierung als demokratisch gewähltes «Management des Grossunternehmens Wohlfahrtsstaat» oder als «Stabsorgan (Rat) des Volkes», wobei letzteres als Souverän die wichtigen Entscheidungen fällt und den Vollzug an verschiedene Staatsorgane delegiert.

Der Ruf nach mehr Führung im politischen System ist heute unüberhörbar. Mit guten Gründen wird der Staat als komplexes Grossunternehmen gedeutet, das seine Handlungsspielräume im Rahmen vielfältigster Vernetzungen bestmöglich zu wahren hat. Auf diesem Hintergrund wird auch der Stellenwert der Repräsentation des Volkes in der Regierung wichtig, obwohl ja diese Funktion eigentlich dem Parlament zukäme. Eine Regierung, die als «Management» dem Volk sagen soll, welches der bestmögliche Weg in die Zukunft sei, hat gewiss mehr Chancen, wenn sie repräsentativ zusammengesetzt ist und wenn sie durch starke Präsenz in den Medien den Konsens mit Mehrheiten sowie die Gefolgschaft für ihre Vorlagen immer wieder neu erwirken kann. Ein Gradmesser ist in diesem Zusammenhang die zunehmende Bedeutung der Informationsbeauftragten. In einem plebiszitärdemokratischen System kommuniziert die Regierung über die Medien direkt mit dem Volk und hat so die Chance, die Gunst des Volkes zu gewinnen und das Risiko, sie auch wieder zu verlieren – im Wechselbad der tagespolitischen Stimmungsumschwünge. Die «gute» Regierung ist unter diesen Randbedingungen jene Regierung, welche von Tag zu Tag Mehrheiten erhalten oder gewinnen kann (nötigenfalls durch «Brot und Spiele»), und die ihr Popularitätsmanagement optimal mit Wahlterminen verknüpft. Solche «real existierenden» Regierungsmodelle können sich innerhalb verschiedenster institutioneller Voraussetzungen etablieren, wobei natürlich die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen begünstigend oder bremsend wirken.

Die aktuelle, nicht ungefährliche Mischung von Massen- und Mediendemokratie und Populismus kontrastiert mit dem Modell, in welchem die Regierung nicht das Volk repräsentiert und führt sondern die «öffentliche gemeinsame Sache» (res publica), nach Massgabe von Verfassung und Gesetz bestmöglich verwaltet. Eine solche Regierung muss nicht in erster Linie repräsentativ sein, sondern kompetent und integer. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch den Mut hat, unpopulär zu sein. Ihre Hauptaufgabe ist nicht die wirksame Werbung für Vorlagen und Grosspro¬ jekte und deren mehr oder weniger trickreiche Finanzierung, sondern die Treue zur Verfassung und zu den Gesetzen sowie der sorgfältige Umgang mit den Staatsfinanzen, kurz: die Budgetdisziplin, bei welcher Kostenüberschreitungen eine seltene Ausnahme sind.

Die drei Merkmale eines zivilisierten Staates sind – nach Adam Smith«peace, easy taxes and tolerable justice». Um dies zu gewährleisten braucht es keine charismatischen Führer, keine «Supermänner» oder «Superfrauen» und auch keine Medienstars. Es genügen integre Persönlichkeiten, die in der Lage sind, einen grösseren Mitarbeiterstab zu führen, kollegiale Entscheidungen zu fällen, Vertraulichkeit zu wahren und über Projekte offen und ehrlich zu informieren. Unbestechlichkeit – nicht nur gegenüber Geld, sondern auch gegenüber Mediengunst – rückt ins Zentrum der Anforderungen.

Ein Mitglied der Landesregierung muss in einem demokratischen Rechtsstaat in erster Linie sein anvertrautes Ressort gut führen und nicht das Volk. In zweiter Linie muss es in der Kollegialbehörde gut kooperieren, seine Anliegen mit dem richtigen Gewicht versehen und die richtige Mischung von Anpassungsbereitschaft und Durchsetzungsvermögen verkörpern. Gegenüber dem Parlament ist Transparenz und Kompetenz gefragt, in einer Kombination, die Vertrauen weckt und Überzeugungskraft ausstrahlt und somit gute Kompromisse ermöglicht. Erst an vierter Stelle kommt der Kontakt mit dem Volk, der vor allem in ausserordentlichen Lagen eine Rolle spielt. Zur Lösung der gängigen politischen Aufgaben brauchen wir keine nationalen Integrationsfiguren, und nichts ist in der Politik gefährlicher als die dauernde Ausrufung irgendwelcher Notstände, die dann durch «Führer» und «Retter» zu meistern wären.

In der Praxis beginnt der «lange Marsch» eines Regierungsmitgliedes am falschen Ende. Zunächst wird der Erfolg in den Medien bei der «Führung des Volkes» gesucht, später allenfalls im Parlament und im Regierungskollegium, schliesslich – bestenfalls – im an¬ vertrauten Departement. Für diese fragwürdigen Prioritäten kann man aber nicht allein das Regierungssystem verantwortlich machen. Die Regierung soll führen, aber sie soll nicht in erster Linie das Volk führen, sondern ihre Sache, welche Teil der «gemeinsamen Sache» ist, wie es Verfassung und Gesetz vorschreiben.

Robert Nef

Neuer und alter Begriff der Regierung. – Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, verhandelten und sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfindung, welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den meisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die konstitutionelle Form als einen Kompromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Prinzip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existieren kann). Dagegen soll man nun lernen – gemäss einem Prinzip, welches rein aus dem Kopfe entsprungen ist und erst Geschichte machen soll -, dass Regierung nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges «Oben» im Verhältnis zu einem an Bescheidenheit gewöhnten «Unten». Bevor man diese bis jetzt unhistorische und willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung annimmt, möge man doch ja die Folgen erwägen: denn das Verhältnis zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältnis, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einflüsse der herrschenden konstitutionellen Regierungsform, ein wenig um: sie werden Kompromisse. Aber wie müssen sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener allerneuste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat! – wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen dürfte. Hierbei ist nichts mehr zu wünschen als Vorsicht und langsame Entwicklung.

Friedrich Nietzsche,
Menschliches, Allzumenschliches; Aphorismus 450

Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1993 – Seite 360-362

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