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Sag mir, wo die Samariter sind

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 3, 1993 – Seite 184-186)

BLICKPUNKTE

Kriegsbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien sind ein fester Bestandteil der «täglichen Brutalität», mit welcher uns das Fernsehen regelmässig versorgt. Unsere Reaktion auf das schwer Verständliche und kaum Begreifliche ist eine Mischung von Empörung und Abscheu, von schlechtem Gewissen und Hilflosigkeit gegenüber der Tatsache, dass wir an den buchstäblich im Strassengraben liegenden Opfern vorbeieilen. Gelegentliche Spenden für Hilfswerke und die Bereitschaft, eine zusätzliche Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, vermögen das Gefühl der Ohnmacht kaum zu entkräften. Bleibt uns denn wirklich nichts anderes übrig, als «angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid» mit «schweigender Ergriffenheit» den Hut abzunehmen, wie dies Carl Spitteler nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als «Schweizer Standpunkt» empfohlen hat? (Allerdings hat Spitteler selber nicht geschwiegen, sondern bei der Frage nach der Schuld gegen die Deutschen Stellung bezogen und damit in Deutschland seinen Ruf als Dichter aufs Spiel gesetzt.)

Die Fragen nach dem Täter und nach dem Opfer stellen sich auch im Konflikt zwischen Serben, Kroaten und Musli¬ men in Bosnien-Herzegowina. Die Vorstellung, dass sich dort Jahrzehnte- und jahrhundertelang aufgestaute Aggressionen in einem Gewaltrausch nach dem Motto «alle gegen alle» entladen und Täter und Opfer hoffnungslos und rettungslos ineinander verkrallt seien, erleichtert zwar das Gewissen der Zuschauer in Europa und in der ganzen Welt, sie ist aber nicht nur grob vereinfachend, sondern objektiv unzutreffend. Unter den informierten Beobachtern und Berichterstattern besteht kein Zweifel, dass gegenwärtig in erster Linie die muslimische Bevölkerung das Opfer der serbischen Aggressions-, Expansionsund «Säuberungspolitik» ist. Noch selten sei in einer gewaltsamen Auseinandersetzung die Täter- und Opferrolle generell so klar unterscheidbar gewesen, versichern uns glaubwürdige Zeugen des grausamen Geschehens. Wenn trotzdem – auch in der Schweiz – die Meinung vertreten wird, der Konflikt sei von allen Beteiligten letztlich selbst verschuldet und es bleibe keine andere Möglichkeit als ihn «von innen ausbrennen zu lassen», erfüllt diese Auffassung eine moralische Alibifunktion, welche die beschämende Tatsache des Zu- und Wegschauens rechtfertigen soll.

Einmal mehr in diesem Jahrhundert vernichtet, vertreibt und vergewaltigt eine nominell christliche Nation eine nichtchristliche Minderheit, und das christliche Abendland schaut zu und findet für seine Passivität mehr oder weniger stichhaltige Gründe und Ausreden.

Doch nicht genug damit: Wir wissen um die gegenwärtigen Opfer, aber auch die potentiellen Opfer sind bekannt: die überwiegend muslimische Bevölkerung in Kosovo. Ihre Vertreibung (wohin?) und Vernichtung ist mit Terrorakten und vorbereiteten Waffenstellungen bereits in die Wege geleitet. Was ist der wahre Grund für die diesbezügliche Passivität? Spielen da noch uralte «Türken-Ängste» und «Kreuzungs-Mentalitäten» eine Rolle, Atavismen wie seinerzeit der «Judenhass», oder teilen wir insgeheim die serbische Vorstellung einer späten Revanche für die 1389 auf dem Amselfeld (Kossovo Polje) gegen die Türken verlorene Entscheidungsschlacht? Wahrscheinlich müssen wir all dies in Rechnung stellen. Nur eines werden wir vor dem «Gericht der Nachwelt» nicht vorbringen können: wir hätten es nicht gewusst.

Islam- und Balkankenner wie Khalid Durán haben sich dazu – auch in den «Schweizer Monatsheften» – immer wieder geäussert, besonders eindrücklich auch in einem Referat, das er kürzlich am «Liberalen Institut» in Zürich gehalten hat. Der Schreibende hat sich unter dem Eindruck dieser Information vorgenommen, wenigstens mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln des Wortes und der Publizität bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die tatsächlichen Gewaltverhältnisse hinzuweisen.

In einer Unterrichtsstunde, die ich im Fach «Politische Bildung» an einer Krankenschwesternschule halten durfte, benutzte ich einmal mehr die Gele¬ genheit zu einer historisch ausholenden Darstellung des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien. Unvermittelt kam es dabei zu folgendem Dialog. (Es war eine jener pädagogischen Sternstunden, in denen der Lehrer zum Schüler wird.)

«War Ihnen dies alles schon bekannt?» (Routinefrage). – «Nein, ich war der Auffassung, es gingen einfach alle aufeinander los.» Und weiter – mit allgemeiner Zustimmung quittiert: «Ich sah im ganzen Konflikt in erster Linie eine undurchschaubare und für uns Frauen unbegreifliche Manifestation entfesselter männlicher Aggressivität.» Schliesslich meldete sich zögernd eine Stimme mit fremdländischem Akzent: «Ich stamme aus Kosovo. Die historischen Zusammenhänge kannte ich nicht, sie wurden mir heute erstmals erklärt. Alles was Sie über die Opferrolle der Muslime sagen, kann ich nur bestätigen. Die Bedrohungen in Kosovo sind noch viel schlimmer, als Sie es geschildert haben. Täglich gibt es dort Terrormorde und Festnahmen zur Einschüchterung der Bevölkerung. Die serbischen Waffen sind einsatzbereit und die Zivilbevölkerung ist wehrlos.» – «Haben Sie keinerlei Hoffnung auf eine Entspannung und Befriedung?» – «Die einzige Hoffnung in Kosovo beruht auf einer Hilfe aus den USA oder Europa.» – «Glauben Sie daran, dass es zu dieser Hilfe kommen wird?» – «In meiner Heimat hat das Volk diese Hoffnung noch nicht aufgegeben, speziell was die USA betrifft. Persönlich glaube ich aber nicht daran.» – «Und Hilfe aus der Türkei oder von andern islamischen Ländern?» – «Vielleicht ein paar Waffen, wenn dies nicht von anderer Seite verhindert wird – aber ich meine, wir werden alleingelassen und niemand wird uns wirklich helfen.» – «Seit wann sind Sie in der Schweiz, haben sie noch Verwandte und Freunde in Kosovo? – «Seit sieben Jahren. Wir haben enge Kontakte mit unserer Heimat und ein Teil meiner Familie lebt dort.» – «Versuchen Sie angesichts ihrer schlimmen Prognosen noch Angehörige aus Ihrer Heimat in der Schweiz oder sonstwo in Sicherheit zu bringen, bevor der Krieg losgeht?» – «Nein – ich werde selber nach meiner Ausbildung zur Krankenschwester dorthin zurückkehren. Die werden mich dort brauchen – so oder so.» – Ende der Lektion – «schweigende Ergriffenheit», nicht nur beim Lehrer.

Und wer ist mein Nächster? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gibt Antwort auf diese Frage. Es war der landesfremde Samariter, der sich als «Nächster» erwies und bewährte. Das christliche Europa bleibt trotz seinen Hilfsaktionen und -angeboten und trotz einigen verbalen und wenig differenzierten Protesten angesichts der muslimischen Gewaltopfer beschämend passiv. Wir eilen vorüber. Die Muslime in Bosnien und in Kosovo sind auf die Nächstenliebe ihrer eigenen Samariter angewiesen, aber es gibt sie.

Robert Nef

Schweizer Monatshefte – Heft 3, 1993 – Seite 184-186

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