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Fundgruben

Lesedauer: 6 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1992 – Seite 647-650)

DAS BUCH

Die deutsche Sprache gewinnt wie die Deutsche Mark in den Staaten des ehemaligen Ostblocks an Bedeutung. Dies könnte für die Deutschsprechenden ein Anlass sein, sich kritisch mit ihrer eigenen Sprache auseinanderzusetzen. Eine beinahe unerschöpfliche Fundgrube für Reflexionen über unsere Sprache ist das Werk von Karl Kraus1. Im zweiten Band der Werkausgabe des Kösel-Verlags sind vielfältige Aufsätze aus der «Fackel» abgedruckt, die zwischen 1915 und 1932 geschrieben worden sind. Der letzte Aufsatz mit dem Titel «Sprache», der auch als Obertitel über den Sammelband gesetzt worden ist. zeugt vom moralischen Anliegen des Autors, das jenseits des «greifbar Nutzhaften» liegt. Kraus appelliert eindringlich an jene geistige Disziplin im Umgang mit der Sprache, die gegenüber «dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Mass einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heule, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurfeiner Zeit gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die grosse moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Und es ist, als hätte das Fatum jene Menschheit, die deutsch zu sprechen glaubt, für den Segen gedankenreichster Sprache bestraft mit dem Fluch, ausserhalb ihrer zu leben; zu denken, nachdem sie sie gesprochen, zu handeln, ehe sie sie befragt hat. Von dem Vorzug dieser Sprache, aus allen Zweifeln zu bestehen, die zwischen ihren Wörtern Raum haben, machen ihre Sprecher keinen Gebrauch. Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache!

Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen Bodens bäumt sie sich dagegen auf…

Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind – das wäre die pädagogische Aufgabe an einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt sein – mehr durch die Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen – ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. ‘Volk der Dichter und Denker>: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn grösser als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Ausserhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfasst: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!»

Karl Kraus ist beim Erlernen dieses Dienstes gewiss ein guter Lehrmeister, aber was gibt es für Lehrmittel? Die Benutzung von Lexika und Wörterbüchern gilt in der wissenschaftlichen Publizistik als unfein und als ungebildet. Zu Unrecht. Sie sind Fundgruben für alle, die der Lösung eines Problems über die disziplinierte Erfassung von Wortbedeutungen und über ein durch Zweifel kontrolliertes Vertrauen in die Sprache näher kommen wollen. Ein unschätzbares Hilfsmittel sind dabei Wörterbücher, welche die Bedeutungsgeschichte des Wortschatzes erschliessen. Zwei einbändige Werke mit grosser Tradition sind für den Laien greifbar und in neueren Auflagen auch erschwinglich: das Deutsche Wörterbuch von Hermann Paul und das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge2.

Machen wir eine Probe aufs Exempel. Drei Schlüsselwörter für menschliches Glück beginnen in der deutschen Sprache mit den Konsonanten Fr: Freiheit, Friede und Freude. Gibt es da sprachge¬ schichtliche Zusammenhänge? Im Paul findet sich dazu folgendes: «frei», althochdeutsch / mittelhochdeutsch fri, gemeingermanisch; zu einer weitverbreiteten Wurzel, deren ursprüngliche Bedeutung «lieb, lieben» gewesen ist, dazu auch freien, Freund, Friede, Friedhof.

(Allein schon diese Vierergruppe ergäbe Stoff zu einem Essay, zu einem Gedicht oder zu einem Roman.)

Weiter folgt der Hinweis auf Frei- in Freitag, was wieder auf die Bedeutung «lieb» verweist. Daraus folgt im Germanischen wie Keltischen die Bedeutung «zur eigenen Sippe gehörig, frei» als Gegensatz zu den verschiedenen Arten der Unfreien, unter die auch die Kriegsgefangenen fielene. (Nun wären die Politologen und die Polit-Psychologen zur Deutung und zu hochaktuellen Kommentaren herausgefordert…)

Frei bedeutet nach Paul weiterhin «unabhängig von einem Souverän» (Freistaat, freie Stadt), noch allgemeiner Abwesenheit eines Zwanges, positiv, freier Wille, von freien Stücken, aus freier Hand, freie Verfügung, freigebig, im Lied die Gedanken sind frei…

Im Kluge wird fri auf germanisch frija zurückgeführt. Zu diesem germanischen Wort stimmt genau kymrisch (walisisch) rhydd, frei, das wegen seines Lautstands urverwandt sein muss. Mit dieser Übereinstimmung setzen sich das Germanische und das Kymrische von den übrigen Sprachen ab, in denen prijo- ursprünglich «eigen», dann «vertraut», «lieb» bedeutet. Die Bedeutung «eigen» zu «nahe bei» das was bei mir ist), auch das Primärverb altindisch primati «erfreut», «geniesst» muss ursprünglich lokale Bedeutung gehabt haben. Die Bedeutung «frei» entwickelt sich aus «eigen» vermutlich in Wendungen «die eigenen Kinder» und verweist auf das Erbrecht. Dass «Freiheit» – auch rein sprachlich – mit «Frieden» zusammenhängt ist keine überraschende, aber doch eine bemerkenswerte Feststellung. Die Verknüpfung mit den Bedeutungen von «eigen», d. h. mit dem Eigentum an der eigene Person ist auch philosophisch höchst relevant. Freiheit ist also auch sprachgeschichtlich im Umfeld der zivilrechtlichen Institutionen des Personenrechts und des Sachenrechts angesiedelt, und überraschenderweise wird auch auf das Erbrecht verwiesen: Freiheit als Fähigkeit zu erben und zu vererben – eine im Zusammenhang mit dem Prinzip des «sustainable development» hochaktuelle Deutung… Dass der Freiheitsbegriff rein sprachgeschichtlich mit der Verbindung zur Bedeutung «lieb» «lieben» durchaus «sozial gebunden» wird, ist ebenfalls eine wichtige Feststellung. «Liebe» bedarf allerdings des Eigentums an der eigenen Person, denn nur was einem gehört, kann schliesslich freiwillig verschenkt werden…

Unter Friede(n) verweist Kluge auf den Zusammenhang mit «frei». Friede müsste demnach ungefähr das Beieinandersein im Sinne von «das gegenseitige Behandeln wie innerhalb der Sippe» sein. Paul unterscheidet fünf verschiedene Bedeutungen von Frieden: Waffenruhe zwischen zwei Gegnern; dem Krieg entgegengesetzter Zustand; die Herstellung des dem Krieg entgegengesetzten Zustands, den Vertrag darüber; Gegensatz zu Zank und Streit; Gegensatz zu innerer Beunruhigung.

Das Wort Freude steht sprachgeschichtlich in keinem Zusammenhang mit «Friede» und «Freiheit». Es wird nach Paul und Kluge mit «froh» in Verbindung gebracht. Kluge stellt eine Verbindung her mit altnordisch frár, schnell. Letzteres ist wohl die Ausgangsbedeutung, doch fehlen sichere aussergermanische Vergleichsmöglichkeiten.

Als weitere Fundgrube für Reflexionen über Begriffe wie «Freiheit». «Friede» und «Freude» bieten sich die Wörterbücher der Philosophie an. Im Jahre 1991 ist ein handliches einbändiges Philosophielexikon erschienen3. Es handelt sich um eine Übersetzung der dänischen Originalausgabe, welche im Hinblick auf die deutschsprachige Leserschaft überarbeitet und durch neue Artikel ergänzt worden ist. Im Vorwort wird die besondere Berücksichtigung des angelsächsischen Kulturkreises erwähnt. Darin liegt die grosse Stärke dieses Bandes: ein Gegengewicht zu den Einführungen in die Philosophie, die ein Schwergewicht bei der Antike, und bei den französischen Rationalisten und den deutschen Idealisten setzen und die angelsächsischen Empiriker, die auch heute – und gerade heute – so vieles zu sagen haben, nur am Rande erwähnen… Unter dem Stichwort «Freiheit» wird der Fatalismus dem Determinismus und dieser dem Indeterminismus gegenübergestellt. Jaspers hat in Anlehnung an Kierkegaard, Heidegger und Sartre alle drei Ansätze verworfen und dem Menschen als freiem Subjekt die Fähigkeit zugebilligt, alle Gegenständlichkeit zu überschreiten. Der Begriff «Friede» hat in diesem Lexikon, das neben Begriffen auch Kurzbiographien der wichtigsten Philosophen enthält, kein eigenes Stichwort erhalten.

Das umfassendste deutschsprachige Wörterbuch der Philosophie ist eine mehrbändig angelegte Neubearbeitung des berühmten Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler, (4. Aufl. 1927-30). «Es nimmt die Philosophie beim Wort, indem es in alphabetischer Folge die Bedeutung und den Gebrauch derAusdrücke erläutert, in denen die Philosophen ihre Fragen und Antworten aussprechen». Die Neubearbeitung wird bei Schwabe in Basel verlegt, seit 1971 sind 7 Bände erschienen, zuletzt der Band P-Q4. Das hier spielerisch getestete Stichwort «Freiheit» wird von Robert Spaemann auf gut 17 doppelspaltigen Seiten begriffs- und ideengeschichtlich umfassend abgehandelt. Auch dem Stichwort «Friede» und «Friedensforschung» sind Beiträge gewidmet. Einleitend wird dort folgendes festgestellt: «In seiner philosophischen Bedeutung erst seit kurzem, in seinem Hang als Prinzip des Denkens und Handelns noch kaum wahrgenommen, gilt Friede gleichwohl von den Anfängen der Geistesgeschichte an als fundamentales Menschheitsproblem, das als solches wiederholt zum Gegenstand thematischer Reflexion wurde. Wie bei kaum einem andern Motiv wirkten dabei ausserphilosophische, insbesondere theologische Antriebe mit.» Die Kennzeichnung als «Fundgrube» trifft bei diesem mehrbändigen Werk im besten Sinne zu. Wer sich suchend hineinwagt, muss allerdings als philosophischer Laie ein hartes Stück Arbeit leisten. Hat man sich aber durch die anspruchsvollen Terminologien (vielleicht mit Hilfe eines weitem Lexikons) hindurchgebissen, so wird man reich belohnt. Das dritte Stichwort unseres Tests, die «Freude», fehlt in beiden philosophischen Lexika: dem Stichwort «Frustration» widmet das Historische Wörterbuch hingegen zwei ganze Spalten. Diese Auswahl hat bestimmt ihre Berechtigung. Die Freude liegt oft verborgen zwischen den Zeilen und stellt sich bei jedem Fund ein, den man als Leser in einer Fundgrube entdeckt.

Robert Nef


1 Karl Kraus: Die Sprache. 2. Bd. der Werke von Karl Kraus. 4. Aufl.. Kösel Verlag. München 1962. S. 437-438. – 2 Deutsches Wörterbuch / Hermann Paul. 9. vollst, neu bearbeitete Aufl. von Helmut Henne und Georg Objartel. Niemeyer. Tübingen 1992: Kluge Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold. 22. Aufl.. De Gruyter. Berlin. New York 1989. – 3 Philosophielexikon. Hrsg. von Anton Hügli und Poul Lübcke. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 1991. – 4 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter (t) und Karlfried Gründer, bisher erschienen Bd. 1-7 (P-Q). Schwabe, Basel 1971 ff.

Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1992 – Seite 647-650

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