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Herausgegriffen – Reflexion Nr. 23, November 1990

Lesedauer: 4 Minuten


(Reflexion – Nr. 23, November 1990 – Seite 37-40)

Herausgegriffen

Aktuelle Stichworte aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen zusammengestellt von Robert Nef

Analyse der Gegenwart

(…) Was haben wir erlebt? Einen Versuch, die Welt der Ideologie zu unterstellen. Welch ein Misserfolg! Vielleicht lernen die Intellektuellen aus diesem Scheitern, dass es nicht genügt, eine Theorie aufzustellen, um sie anschliessend der Wirklichkeit anzupassen. Lebendig, geheimnisvoll, die Wirklichkeit geht über alle denkbaren Theorien, alle Pläne, alle Begriffe hinaus. Bevor sie geordnet, organisiert wird, muss man dem Reichtum, der Vielfalt und der Verschiedenartigkeit des Lebens Demut und Respekt erweisen. Es ist unmöglich, sie im Prokrustesbett einer Utopie zu strecken, die der kalte Geist eines Ideologen hervorgebracht hat. Doch ist dies in unserem Teil der Welt geschehen. Die Folge war ein totaler Fehlschlag. Daraus erklärt sich das Misstrauen der osteuropäischen Intellektuellen gegenüber den Plänen, den Theorien. Daraus resultiert unser Wille, uns an die Analyse der Gegenwart zu halten, den besten Weg, die Zukunft zu planen. (…)

Aus: Interview mit Vaclav Havel, aufgezeichnet von Michel Bongiovanni am 30. Juni 1989 (!), Unesco Kurier Nr. 6, 1990, S.19 ff.

Europa

Der jüngste Nationalismus: Europa. Vor einem europäischen Chauvinismus wird gewarnt.

Ludwig Marcuse

Verschiedene Schweizen

(…) Manchmal scheint es, wir lebten in verschiedenen «Schweizen», der glücklichen, wohlhabenden, vollbeschäftigten, mobilitätsgesteigerten. der «Es-ging-uns-ja-noch-nie-so-gut-Schweiz» einerseits, der vom Filz durchtränkten, zur Geldherrschaft verkommenen, der militarisierten, betonierten, rücksichtslos-egoistischen, von Aids, Drogenelend, Waffenausfuhr, Geldwäscherei geschüttelten Schweiz anderseits.

Wir müssen unsere Schweiz wieder finden, nicht in einer egozentrischen Betrachtung, sondern in gemeinsamen, dialogischen, grabenüberwindenden Anstrengungen. Vorbedingung hiefür ist die Einsicht, dass das eigene Bild der Schweiz und deren Probleme möglicherweise nicht das vollständige, nicht das allein richtige ist. Dazu sind wir alle aufgerufen. (…)

Aus: Verständigung tut Not, René Rhinow, Prof. Dr. iur., Ständerat, Schweizerischer Freisinniger Pressedienst 45/3, 1990, S. 12.

Toleranz

Des einen Freiheit ist
des anderen Zwang,
des einen Tun
ist
des anderen Leiden.
Des einen Zwang
ist
des anderen Freiheit,
des einen Leiden
ist
des anderen Tun.
Die Toleranzgrenze
des Leidenden
sei
die Freiheitsgrenze
des Handelnden!

Aus: Theodor Weissenborn, Alchimie – Sprüche und Wider-Sprüche, Stuftgart 1987, S. 15.

Merksätze

«ln einer Marktwirtschaft wird die Welt jeden Tag neu verteilt» – «Ohne Ertragsorientierung ist die Marktwirtschaft tot» – «Wenn wir als verantwortliche Unternehmer nicht für Wettbewerb sind, dann werden wir unser eigenes Grab schaufeln».

Helmut Maueher

„Bulls Can Make Money/
Bears Can Make Money/
Pigs always Get Slaughtered!““

Ungeschriebenes Gesetz der Wall Street

Kapitalmarkt und Privateigentum

(…) Der Markt braucht Konkurrenz und hartes Geld. Er wird nicht funktionieren, wenn diese beiden Komponenten fehlen. Denn der Markt ist ja nicht nur das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Dieses Gleichgewicht können wir schon morgen erreichen. Wir wissen ziemlich genau, welche Preise eingesetzt werden müssen, damit Waren in den Geschäften sind, gut verkauft werden und die Schlangen verschwinden. Dieses Gleichgewicht ist aber noch kein Markt. Es kommt auf den Kapitalmarkt an, also auf die Beziehung zwischen hohen Gewinnen und hohen Investitionen. (…)

(…) Wir müssen weg vom Staatseigentum. Im Staatseigentum gibt es keine Beziehung zwischen dem Recht, Entscheidungen zu treffen, und der Verantwortung dafür. Das ist die grösste Sünde unseres Verwaltungssystems. Privateigentum gehört mir und meinen Kindern, das heisst, es ist langfristig. Wer privates Eigentum hat, ist deshalb immer daran interessiert, es zu mehren. Das gesellschaftliche Eigentum ist in diesem Sinne nicht langfristig. (…)

Aus: «Wir müssen weg vom Staatseigentum», ZEIT-Gespräch mit Petrokow Nikolaj, in: ZEIT Nr. 19, 4. Mai 1990, S. 44.

Wohnungsnot

Bericht aus der Sowjetunion

(…) «Fast bei der Hälfte der Familien von Arbeitern und Angestellten (49,2% in den Städten und 47% in ländlichen Siedlungen) entfallen auf eine Person 9 oder weniger Quadratmeter Wohnfläche. Jede zehnte Familie lebt in beengten Wohnverhältnissen, d.h. auf eine Person kommen weniger als 5 m2 Wohnfläche.

Von den Familien, die auf Wartelisten für Wohnflächenzuteilung vorgemerkt sind, muss jede dritte Arbeiter- und Angestelltenfamilie in den Städten sowie jede vierte in ländlichen Siedlungen 5 bis 10 Jahre lang auf ihre Wohnungszuteilung warten. 19% solcher Familien warten in den Stadtgebieten schon länger als 10 Jahre auf eine Wohnung, auf dem Lande sind es 8%… (…)

Aus: «Argumenti i fakty», 711990, übersetzt und abgedruckt in: Ostblick. Mai 90, S. 27 f.

Vergleiche dazu:
Wohnfläche pro Einwohner in der Stadt Basel:

1950 = 24 m2
1980 = 40 m2

Aus: Der Wettstreit um den Boden, Bundesamt für Raumplanung, Bern 1986.

Ökologisch bewusstes Marketing

Das gesellschaftliche und das Markt-System sind derart komplex, dass der einzelne Unternehmer darauf lediglich beschränkten Einfluss haben kann. Er ist und bleibt aber ein Einflussfaktor. ob er nun proaktiv und vorausschauend handelt oder ob er durch Unterlassen glänzt. Es bleibt die hohe Kunst des gesellschaftsbezogenen und ökologisch bewussten Marketing, den vorausschauenden Einfluss auch wirtschaftlich profitabel auszuüben. Und in diesem Zusammenhang wird Kunst zur Notwendigkeit.

Aus: Gerry Leumann, Die soziale Herausforderung des Marktes, Vereinigung für freies Unternehmertum, Schaffhausen 1990, S.84 f.

Freiwilligkeit

So setzt Solidarität (…) Freiwilligkeit voraus. Deshalb kann echter Gemeinsinn nur freiwilliger Gemeinsinn sein. Die erzwungene Unterstützung anderer vermag dagegen keine moralische Qualität zu beanspruchen. Die forcierte Umverteilung von Einkommen und Vermögen beispielsweise durch den Staat hat insofern nichts mit Solidarität, sehr viel dagegen mit Redistribution zu tun, und als das sollte man sie deswegen auch bezeichnen. Sowohl staatliche Entwicklungshilfe als auch staatliche Sozialpolitik sind in diesem Sinne nichts anderes als verordnete Menschlichkeit. Jedenfalls sind sie dann kein Ausdruck von Solidarität, wenn jene, welche die finanzielle Hauptlast solcher Massnahmen tragen, sich im Rahmen des demokratischen Prozesses gegen die Umverteilung ausgesprochen haben. Ein Zeichen fehlenden Gemeinsinns ist in einer solchen ablehnenden Haltung dennoch nicht zu erblicken, denn die zahlreichen freiwilligen Spenden der Bürger für den einen oder anderen Zweck belegen schon heute, dass es um das Zusammengehörigkeitsgefühl nicht so schlecht bestellt ist. Sie verdienen es zu Recht, als Ausdruck der Gemeinschaftsbezogenheit bezeichnet zu werden, und sollten deshalb nicht mit der kollektiven Hilfe in einen Topf geworfen werden. Sie sind nicht das gleiche.

Aus: Echte statt «sozialstaatliche» Solidarität, G. Schwarz, NZZ Nr.190 vom 18./19. August 1990.

Nationalismus

Die Behauptung ist nicht übertrieben, dass heute keine politische Bewegung, zumindest ausserhalb der westlichen Welt, Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie sich nicht mit dem Nationalgefühl verbindet. Da ich, wie ich nochmals betonen möchte, weder Historiker noch Politikwissenschaftler bin, wollte ich keine Erklärung dieses Phänomens anbieten, sondern nur eine Frage stellen und auf die Notwendigkeit hinweisen, diesem besonderen Ableger der romantischen Revolte, der unsere Welt so entscheidend beeinflusst hat, grössere Aufmerksamkeit zu schenken.

Aus: Berlin Isaiah, Der Nationalismus – Seine frühere Vernachlässigung und gegenwärtige Macht, Frankfurt a/M 1990, S. 72.

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