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Liberalismus und die Idee des Dienens

Lesedauer: 11 Minuten


(Reflexion – Nr. 20, November 1989 – Seite 23-30)

Vortrag vor dem Rotary Club Zürich am 11. August 1989

Einleitung

“There ain’t no such thing as a free lunch”. Dieses viel zitierte amerikanische Sprichwort ist gleichzeitig eine Kurzformel und eine Primitivformel des Wirtschaftsliberalismus. Es dokumentiert die grosse Bedeutung des Tauschprinzips, bei dem Leistung nur auf Grund einer Gegenleistung erfolgt. Wer will, dass er etwas bekommt, muss etwas geben: Do ut des. Aufgrund dieser Formel gibt es keine ursprünglichen und “angeborenen Rechte auf irgendetwas”. Die Formel ist nicht falsch, aber sie ist zu eng und zu unvollständig, um den Liberalismus als Ganzes zu charakterisieren. Etwas bleibt dabei unberücksichtigt: Weil es stets Menschen gibt, die zur Erhaltung eines menschenwürdigen Lebens Dienste anderer beanspruchen, ohne eine Gegenleistung dafür erbringen zu können, muss es auch Menschen geben, die Dienste leisten ohne Anspruch auf Gegenleistung. Dies ist der Dienst im wahren Sinne des Wortes. Wer solche Dienste leistet, offeriert den “Free lunch” ohne gleichzeitig das Prinzip des Tauschens anzuwenden oder – anders ausgedrückt ohne den Markt zu beanspruchen. Nur so wird vielleicht das Prinzip als solches immer wieder vor unumkehrbaren Fehlentwicklungen geschützt.

Etwas verallgemeinernd kann man einen “free lunch” auch als Unterstützung deuten, die ohne inhaltliche Bedingungen gewährt wird. Das “Liberale Institut” ist eine Stiftung, die von solchen Unterstützungen lebt, und ich benütze gerne die Gelegenheit, um in diesem Kreis für zahlreiche “free lunches” in diesem weiteren Sinn zu danken.

Das Thema zu meinem Vortrag habe ich nach dem Motto gewählt, dass mindestens der Referent von einem Referat profitieren sollte (ein Vergnügen, um das sich alle jene bringen, welche sich ihre Referate durch Dritte schreiben lassen). Ich möchte die Grundidee des Liberalen Instituts, für das ich tätig bin, mit der Grundidee Ihres Service-Clubs konfrontieren. Dies wird allerdings nicht ohne zahlreiche Vereinfachungen möglich sein. Das Verhältnis vön Freiheit und Dienen ist auch so noch kompliziert genug.

Was heisst Liberalismus?

Das Wort “liberal” kommt vom lateinischen “liberalis” und heisst freigiebig. Diese allgemeine Bedeutung ist eine Quelle zahlreicher Missverständnisse. Auf eines möchte ich besonders hinweisen: Die “liberals” in den USA sind nicht Liberale in unserem Sinn, sondern Promotoren des Sozialstaates. Sie appellieren für die Unterstützung sozial Benachteiligter an die Freigiebigkeit des Staates und sind gegenüber Interventionen aller Art offen. Staatskritische bzw. staatsskeptische Liberale bezeichnen sich in den USA selbst als “libertarians”.

Der europäische Liberalismus wird ideengeschichtlich in der Regel auf die Aufklärung und auf die französische Revolution zurückgeführt. Ihr Slogan “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” und die Errungenschaft, die Menschenrechte, sind die gemeinsame Wurzel von Sozialismus und Liberalismus. Zur Lösung der Probleme unserer Zeit ist meines Erachtens das vor 200 Jahren formulierte Programm wenig geeignet. Es ist antiquiert und missverständlich. Darum ist es eine herausfordernde Aufgabe, eine neue Dreierformel für unsere Zeit zu finden. Ich bin gespannt, was in diesem Kreis hier für ein Resultat herauskäme. Ohne Anspruch auf Originalität möchte ich Ihnen meine Lösung vortragen. Statt Freiheit (ein erhabenes, vieldeutiges Wort!) setze ich “Freiwilligkeit”. “Freiwilligkeit ist der Preis der Freiheit” – ein Ausspruch von Gottlieb Duttweiler.

Manchmal ist es vielleicht bescheidener und auch präziser, wenn man vom Preis ausgeht und nicht vom hohen Gut selbst. Statt “Gleichheit” setze ich das Gegenteil ein: die Vielfalt. Ich wende mich damit nicht gegen das hohe Gut der Rechtsgleichheit. Das generelle Postulat der Gleichheit hat aber in der Menschheitsgeschichte viel Unheil angestiftet. Selbst in der abgeschwächten Form der Chancengleichheit ist es mir noch zu egalitär und zu stark an den Neid appellierend. Also auch in dem Zusammenhang: Chancenvielfalt statt Chancengleichheit, um einer Vielfalt vielfältiger Menschen gerecht zu werden.

Und nun zur dritten, heute am meisten umstrittenen Forderung, zur “Brüderlichkeit”. Ich ersetze sie nicht nach feministischem Muster mit “Schwesterlichkeit”. Sowohl die Brüderlichkeit als auch die Schwesterlichkeit sind in der Menschheitsgeschichte nicht durchwegs in ihrem harmonischen Ideal gelebt worden. Denken wir an Kain und Abel und an Esau und Jakob vielleicht doch nicht ganz unrepräsentative Geschwisterpaare. Was soll also an Stelle der durchaus problematischen Brüderlichkeit treten? Ich wage hier den Begriff der Offenheit zu wählen. Offenheit bedarf der Meinungsäusserungsfreiheit und der Oeffentlichkeit. Sie ist jenes Verfahren, das Wahrheit fördert, die Wahrheit, die nie vollkommen und definitiv erkannt wird, die aber nach den Worten der Bibel frei macht. (Die Wahrheit ist inzwischen auch als wirksamste und billigste Form wirtschaftlicher Oeffentlichkeitsarbeit erkannt worden.)

Meine Dreierformel lautet also: “Freiwilligkeit, Vielfalt, Offenheit”. Auch diese Formel ist natürlich sehr allgemein. Sie bedarf der Interpretation und sie muss, um politisch praktikabel zu sein, ergänzt werden durch zusätzliche Inhalte.

Beim Versuch, den drei Zielen in der Realität vermehrt zum Durchbruch zu verhelfen, wird sichtbar, dass diese Realität keine Einheit bildet. In der Wirtschaft, in der Politik und in der Kultur führt die Verfolgung dieser Ziele zu anderen Konsequenzen und Programmen. Dies zeigt sich auch darin, dass man aus dieser Sicht drei verschiedene Arten des Liberalismus feststellen kann, den wirtschaftlichen den politischen und den sozio-kulturellen. Sie haben zwar dieselben Grundsätze, aber ihre Umsetzung in die Wirklichkeit führt zu Konflikten. Im kreativen Umgang mit diesen Konflikten ist der Liberalismus dauernd ergänzungsfähig und ergänzungsbedürftig.

Im 20. Jahrhundert haben Liberale die soziale Marktwirtschaft geschaffen und den Sozialstaat mit ermöglicht. Dieses Zusammenwirken von liberalen uns sozialen Demokraten halte ich persönlich nicht mehr für zukunftsträchtig. Welches Prinzip soll also an die Stelle der Sozialstaatsidee treten? Ich glaube, dieses Prinzip in der “Idee des Dienens” gefunden zu haben, sowie in der Wahrnehmung unserer Verantwortung für die Umwelt und für die Nachwelt. Diese Verantwortung hat in einer technischen Zivilisation einen zentralen Stellenwert.

Der Wesenskern des Liberalismus sind nicht die Menschenrechte im Sinn der französischen Revolution, sondern jene Entdeckungen, die keine Erfindung sind, welche die angelsächsischen Empiristen und Moralisten und die schottischen “Wirtschaftsethiker” im Anschluss an antike, christliche und humanistischen Vorleistungen formuliert haben:

Der wahre Reichtum liegt im Leistungs- und Lernprinzip und der Erkenntnis in der Tatsache, dass letztlich niemand sein Leben dauerhaft auf Kosten eines anderen fristen kann und soll. Das “Prinzip Neid”, das “Prinzip Selbstmitleid” und das “Prinzip Klassenkampf”, das von Sozialisten aller Länder gepredigt und geschürt wird, führt nicht zur Befreiung sondern zur Versklavung derer, die dazu verführt werden.

Nicht: “Macht kaputt, was Euch kaputt macht”, sondern: “Lernt, was Ihr selbst für Euch tun könnt, ohne stets auf andere zu schauen”. “Lasst Euch nicht ausnützten und misstraut denen, die vorgeben, Euch zu helfen” … “Fragt nicht, was andere für Euch tun können, sondern was Ihr für Euch selbst und für andere tun könnt …”
Altruismus als intelligente Form des Egoismus … Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst

Die Energie, die man braucht und verschwendet, um dem Phantom “Gerechtigkeit” nachzujagen, braucht man besser dafür, um sich ein Stück Eigenständigkeit zu erarbeiten, die umso stabiler und zukunftsträchtiger ist, je weniger sie auf Kosten anderer praktiziert wird.

Das Schlagwort “enteignet die Enteigner” hat nur Hass und Neid produziert. Leider ist es populärer geworden, als ein anderes Schlagwort, das Jahrhunderte überdauert hat: Der kategorische Imperativ von Kant: “Handle so, dass die Maxime Deines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann”.

Es gibt aber durchaus handfeste Spuren im täglichen Leben, die von diesem kategorischen Imperativ zeugen. Ich finde solche Spuren in unserem Privatrecht, das im Kern das ganze Programm des Liberalismus enthält. Die wirklich bleibende Errungenschaft der Französischen Revolution ist der “Code Civil”, der natürlich viel älter ist, und der seine Wurzeln im römischen Privatrecht hat. Die Systematik unseres Zivilrechts liest sich wie ein liberales Programm. Wenn ich nach einem Buch gefragt werde, das die Kernpunkte des Liberalismus zum Ausdruck bringt, so empfehle ich die Lektüre der Systematik unseres Zivilrechts!

Persönlichkeit, freiwilliger Zusammenschluss von Personen, Familie, Erbe, Eigentum/Besitz, Verträge, Haftung, wirtschaftliche Personenverbände, Wertpapiere als “privates Geld”, dann – in anderen Gesetzen – Vollstreckungshilfe durch den Staat – begrenzt auf Vermögenswerte, präventiver und repressiver Schutz durch Strafrecht: das ist die Systematik einer auf das Privatrecht ausgerichteten politischen Ordnung. Sie ist das Produkt eines über 2000-jährigen sozialen Experiments, welches als menschheitsgeschichtlicher “Weisheitsspeicher” unterschätzt wird.

Die Privatrechts-Systematik darf allerdings nicht nur linear von vorne nach hinten gelesen werden, denn das Wertpapier darf nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Es muss verknüpft bleiben mit dem Anfang, mit der Persönlichkeit.

Ich habe von der Ergänzungsfähigkeit und von der Ergänzungsbedürftigkeit des Liberalismus gesprochen und habe als ergänzendes Prinzip die Idee des Dienens und die Idee der Umwelt- und Nachweltverantwortung postuliert. Lassen Sie mich noch drei Kronzeugen anführen für die erwähnte Ergänzungsbedürftigkeit des Wirtschaftsliberalismus: Wilhelm Röpke und Friedrich A. von Hayek, 20126 und der Musiker Yehudi Menuhin. (Der Beitrag der Kulturschaffenden zur Lösung der Zukunftsprobleme wird meist unterschätzt … )

“Das Wirtschaftsleben spielt sich selbstverständlich nicht in einem moralischen Vakuum ab. Es ist vielmehr dauernd in Gefahr, die ethische Mittellage zu verlieren, wenn es nicht von starken moralischen Stützen getragen wird, die eben vorhanden sein und unablässig gegen Fäulnis imprägniert werden müssen.
Andernfalls muss schliesslich ein System freier Wirtschaft und mit ihm die freie Staats- und Gesellschaftsordnung zusammenbrechen… Es muss höhere, ethische Werte geben, die wir mit Erfolg anrufen können: Gerechtigkeit, Verantwortung für das Ganze, Wohlwollen und Sympathie. So ergibt sich, dass auch die nüchterne Welt des reinen Geschäftslebens aus sittlichen Reserven schöpft, mit denen sie steht und fällt und die wichtiger sind als alle wirtschaftlichen Gesetze und nationalökonomischen Prinzipien. Die ausserökonomisch, geistig-moralische und gesellschaftliche Integration ist immer die Voraussetzung der wirtschaftlichen; national wie international… Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Masshalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen. Sie sind die unentbehrlichen Stützen, die beide vor Entartung bewahren. Familie, Kirche, echte Gemeinschaften und Ueberlieferung müssen sie damit ausstatten.” Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Bern, Stuttgart 1979 (5. Auflage) S. 184 ff.

“Das Ideal, dass es den Menschen erlaubt sein soll, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, wird oft dahin missverstanden, dass er dann ausschliesslich seine egoistischen Ziele verfolgen wird oder sogar soll. Die Freiheit, seine eigenen Ziele zu verfolgen, ist jedoch für den altruistischen Menschen, in dessen Wertskala die Bedürfnisse anderer Menschen einen sehr hohen Platz einnehmen, ebenso wichtig wie für den Egoisten. Es gehört zu der Natur des Mannes (und vielleicht noch mehr der Frau) und bildet die Hauptgrundlage seines Glückes, dass er das Wohlergehen anderer zu seiner Hauptaufgabe macht. Das ist eine der uns offenstehenden Möglichkeiten und oft die Entscheidung, die im allgemeinen von uns erwartet wird.” Friedrich A. von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 97

“Ich glaube, es gibt nur eines, was uns retten kann: unseren Kindern gegenüber wieder glaubhafter und verantwortungsbewusster zu werden. Nur wenn wir ihre Zukunft und die der nachfolgenden Generationen mit in unser Handlungskalkül einbeziehen, können wir für sie eine Welt ohne die grossen Schrecken der heutigen Zeit vorbereiten. Wenn jeder nur an sein gegenwärtiges Interesse denkt und auf Kosten anderer eine Menge Geld macht, ohne die Folgen zu bedenken, werden wir alle untergehen.” Yehudi Menuhin in: “Forum”, Heft 4, Juni 1989

Die Idee des Dienens

Die drei Zitate belegen es: Der Liberalismus ist mehr als simpler Sozialdarwinismus, mehr als “survival of the fittest”. Wenn schon von “survival” die Rede sein soll, so müsste klar werden, dass “the fittest” nicht der Rücksichtsloseste ist, sondern der Lernfähigste: “Survival of the most adapted”.

Der Liberalismus geht nicht vom Modell der fundamentalen Anrechtsstrukturen, sondern von der zugleich modernen und aktuellen Idee der Selbstsorge aus. “Anrecht” hat man nur auf den Tod, das Leben muss man sich selbst verdienen.

Ich wiederhole es ohne Zynismus: “There ain’t no such thing as a free lunch”. Ein solches Credo, das sich nicht an Ideen, sondern an Fakten orientiert, führt nicht notwendigerweise zu einer Cowboy-Oekonomie und zur Rücksichtslosigkeit von Brandrodern. “Survival of the fittest” ist keine Anti-Moral. “The fittest” ist im menschheitsgeschichtlichen Rahmen nicht der Aggressivste, der zum Schwert greift und durchs Schwert umkommt, sondern der am besten an Natur und Gesellschaft Adaptierte, der Sozialste.

Eine andere Kurzformel des Wirtschaftsliberalismus, die historisch bezeugt ist, scheint im Gegensatz zu der Idee des Dienens zu stehen. Es ist die Formel des Bürgerkönigs Louis Phillippe bzw. seines Ministers Guizot: “Enrichissez-vous”! Diese Formel mag in einer bestimmten Situation wirtschaftspolitisch Erfolg haben, sie ist aber als gesellschaftspolitisches Programm total ungenügend. Ich sage dies nicht ohne Seitenblick auf das heutige Zürich, in welchem die erwähnte Formel für zahlreiche Liberale zum einzigen Motto zu werden droht. Demgegenüber ist festzuhalten, dass sich der Kapitalismus nur dort rechtfertigen und durchhalten lässt, wo er auch ethische Pflichten anerkennt. Max Weber hat die Entstehung des Kapitalismus mit der Entstehung des Calvinismus in Verbindung gebracht. Auch wenn seine These historisch umstritten bleibt, enthält sie vielleicht den Schlüssel für die Zukunft…

Ich will als “schrecklicher Vereinfacher” die Idee des Dienens nicht mit einer Formel, sondern mit drei Buchstaben charakterisieren: Es sind die drei “D” des Dienens.

Disziplin

Disziplin ist jene Eigenschaft, die man von discipulus, das heisst vom Schüler, idealerweise erwartet. Ich selbst gestehe es, dass ich damit stets Mühe hatte und habe. Im Sinne der dauernden Lernbereitschaft und auch der Verzichtbereitschaft, ist sie aber ein Schlüsselwort der Zukunftsbewältigung. Sogar ihre militärische Definition, “die ganzheitliche Hingabe an die Pflicht” verdient beim Wort genommen zu werden. Disziplin ist ein Gegenbegriff zu einem äusserst populären Postulat, nämlich zu Selbstverwirklichung.

Dienen heisst Disziplin vor Selbstverwirklichung setzen.

Dankbarkeit

Dankbarkeit heisst auf lateinisch Caritas. Dasselbe Wort wird auch für die Nächstenliebe verwendet. Dankbarkeit soll man nicht verlangen, sondern zeigen. Wer Dienste leistet, sollte keinen Anspruch auf Dankbarkeit erheben. Dankbarkeit ist die Quelle der Freiwilligkeit, und weil Freiwilligkeit zu den höchsten Zielen und zu den knappesten Gütern gehört, darf deren Quelle nicht vernachlässigt werden. Wer dieses knappe Gut produzieren will, muss Dankbarkeit zeigen. Dankbarkeit steht im Gegensatz zum Anspruchsdenken. Dienen heisst dankbar sein, statt Ansprüche stellen.

Demut

Demut kommt sprachlich von Dienstmut, denn Dienen braucht Mut. Dieses Wort strapaziert unser Selbstbewusstsein, auch meines, und als 20-jähriger wäre ich mehr als erschrocken, wenn man mich mit den jetzt von mir formulierten drei “D’s” konfrontiert hätte. Demut steht im Gegensatz zu Karriere, Kapital und Konkurrenzfähigkeit. Dienen braucht jenen Dienstmut (Demut), der im Gegensatz zur Profilierungssucht steht.

Die drei Begriffe Disziplin, Dankbarkeit und Demut werden heute so nicht mehr verstanden. Ich würde mich hüten, sie im erzieherischen Gespräch mit meinen Kindern oder im Unterricht mit meinen Schülern und Studenten zu verwenden. Was aber hinter diesen Begriffen steckt, ist – so glaube ich – für uns alle überlebenswichtig.

Als Liberaler muss man mit der Tatsache fertig werden, dass Liberalismus zwar höchst aktuell, aber in einer satten Konsumgesellschaft nicht besonders populär ist. Populär sind Selbstverwirklichung, Anspruchsdenken und Profilierung. Disziplin, Dankbarkeit und Demut ernten höchstens noch ein mildes Lächeln.

Der Kommunismus und der Sozialismus sind zwar geistig bankrott und beide Bewegungen des 19. Jahrhunderts versuchen nun durch Anleihen bei ihrem Ideologischen Gegner ihr Ueberleben im 21. Jahrhundert zu sichern. An die Stelle der verblassenden Ideologien tritt aber hüben und drüben nicht der Liberalismus, sondern der “je m’ en-foutisme” und der Konsumismus, der sich mit Brot und Spielen vergnügt und begnügt.

Ich möchte nun versuchen an Stelle der für pädagogische Zwecke untauglichen drei “D” andere Begriffe einzusetzen, die etwas moderner klingen, aber dasselbe meinen. Ich ersetze die drei “D” durch drei “K”.

Statt von Disziplin könnte man von Kommunikationsfähigkeit sprechen. Kommunikation braucht nämlich in komplizierten Angelegenheiten viel Disziplin. Wir produzieren gesellschaftlich weniger Disziplin als wir konsumieren. Als Be1sp1el sei lediglich auf den Strassenverkehr verwiesen.

Statt von Dankbarkeit könnte man von Konsensfähigkeit sprechen. Consentire heisst ursprünglich zusammen empfinden. Beim aus der juristischen Terminologie bekannten Konsens geht es um das rationale Verständnis. Die Verbindung von emotionalem Einfühlungsvermögen und rationaler Verständnisbereitschaft ist vielleicht das Wesen der Dankbarkeit.

Statt von Demut könnte man von Kooperationsfähigkeit sprechen. Kooperation ist nur dann möglich, wenn auf beiden Seiten der Geist des gegenseitigen Dienens bzw. der Dienstmut lebendig ist.

“Kommunikation” braucht den Glauben an ihre Möglichkeit, “Konsensfähigkeit” braucht die Liebe im Sinne des Einfühlungsvermögens, und “Kooperation” braucht die Hoffnung darauf, dass die Formel “einer trage des anderen Last” die Lücken der anderen Formel “no free lunch” zu füllen vermag.

Mit Glaube, Liebe und Hoffnung sind wir bei einer anderen Dreiheit, deren Gehalt die Jahrhunderte überdauert hat und überdauern wird.

Ich versuche nun eine Brücke zu schlagen zwischen der Idee des Dienens und dem Liberalismus. Freiwilligkeit verlangt Dankbarkeit, Vielfalt verlangt Demut und Offenheit verlangt Disziplin.

Der Liberalismus appelliert für die stets notwendige Begrenzung der Freihe1t an die Freiwilligkeit und optiert für moglichst grosse Freiheit für möglichst viele Menschen. Damit ist er nicht etwa originell. Jedes politische Programm fordert Fre1he1t und jedes politische Programm anerkennt auch Grenzen der Freiheit. Die Unterschiede ergeben sich aus der Methode und dem Umfang der Freiheitsbegrenzung.

Ist Freiheit “ein übrigbleibender Rest” oder die “pièce de résistance”…? Politische Ideologien lassen sich dadurch charakterisieren, wie sie die Grenzen der Freiheit bestimmen. Diese Grenzen sind etwas ganz Entscheidendes. Wir wollen kurz prüfen, ob die errwähnten Leitideen auch tauglich sind, um die erforderlichen Grenzsetzungen zu begründen.

Wir brauchen Disziplin, um die notwendigen Grenzen zu setzen. Wir brauchen Dankbarkeit um trennende Grenzen zu überschreiten und wir brauchen Demut, um unüberschreitbare Grenzen zu anerkennen.

Zur Charakterisierung der Verbindung von Liberalismus und Dienen bemühe ich wieder einen Buchstaben; es ist der “Verbindungsbuchstabe “L”. Die drei wichtigsten “Verbindungsworte” beginnen mit L: Lernen, Leisten und Lieben. Damit komme ich zu einem kleinen Schema, das natürlich so falsch ist wie alle vereinfachenden Schemata. Es kann aber vielleicht doch zur Veranschaulichung des bisher Gesagten dienen.

Aufgabe Voraussetzung Ziel
Lernen Disziplin Kommunikation
Leisten Demut Kooperation
Lieben Dankbarkeit Konsens

Unsere Aufgabe besteht in der Praxis der drei “L”: Lernen, Leisten und Lieben. Voraussetzungen dazu sind: Disziplin fürs Lernen, Demut fürs Leisten und Dankbarkeit in der Liebe.

Das Ziel ist bei der Disziplin die Kommunikation, bei der Demut die Kooperation und bei der Dankbarkeit der Konsens.

Zusammenfassung

Ich habe mit dem Hinweis auf den “free lunch” begonnen, den es aus liberaler Sicht angeblich nicht gibt, und ich möchte mit dem Hinweis auf ein “supper” schliessen, auf “the last supper”. Ich deute damit auf die Symbolik des Abendmahls hin, so wie ich sie verstehe.

Auch für den materialistischen Sozialismus gibt es eine Kurz- und Primitivfassung. Es ist der oft zitierte Satz von Brecht: “Zuerst kommt das Fressen und dann die Moral”. (Wir sind soeben im Begriff ihm nachzuleben … ) In “The Lords Supper” bilden nun das Essen und die Moral eine Einheit. Das gemeinsame Mahl ist ein gemeinsamer Konsum, im umfassenden Wortsinn. Dieses gemeinsame Essen ist auch – wie alles gemeinsame Wirtschaften und Ueberleben – ohne gemeinsame Moral nicht friedlich möglich. Nur im Bewusstsein, dass es noch andere Dimensionen gibt als Produktion und Konsum, dürfen wir in dieser Welt nehmen, teilen und nutzen, bzw. geniessen. Wir dürfen konsumieren, aber wir müssen stets auch kommunizieren, kommunizieren in einem ganz umfassenden Sinn, der die drei “D” Disziplin, Dankbarkeit, und Demut, die drei “K” Kommunikation, Kooperation, Konsens und die drei “L” Lernen, Leisten und Lieben stets mit einbezieht.

Ich danke Ihnen für die Gelegenheit einseitigen “Kommunizierens” die ich gerne voll ausgeschöpft habe und von der ich hoffe, dass sie auch ein wenig gegenseitig war.

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