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Wider die Gleich- und Gerade-Macher

Lesedauer: 3 Minuten

9/21, 9/22 – Robert Nef / Reflexion Nr. 9 / August 1984

Betrachtet das Walten Gottes!

Wer kann gerade machen, was er gekrümmt hat? Am guten Tage sei guter Dinge und am bösen Tage bedenke: Auch diesen hat Gott gemacht wie jenen. Denn es wird dem Menschen nichts mehr zuteil nach seinem Tode. Prediger, Kapitel 7, Vers 14 und 15.

Wir leben in einer Zeit, die Abschied nimmt vom fast schrankenlosen Glauben an die Machbarkeit aller Dinge, an die Herstellbarkeit von Gerechtigkeit und Gleichheit, von Zukunft, Harmonie und Glück Der Mensch, die Gesellschaft und die Welt sind keine rational funktionierenden Systeme. Die Hoffnung, dass der Mensch endlich alles in den Griff bekomme, dass die «Maschine Mensch» und die «Maschine Menschheit» reibungslos funktionieren und bei Bedarf von den dafür zuständigen und ausgebildeten Fachleuten (Pädagogen, Soziologen, Psychologen, Theologen, Ärzten und Politikwissenschaftern) repariert und in Gang gehalten werden, hat sich — glücklicherweise — nicht erfüllt.

Und doch leben wir in einer Gesellschaft, in der wir davon ausgehen, dass letztlich jeder seines Glückes Schmied ist. Jeder ist bestrebt, seine Umwelt oder sich selbst so zurechtzubiegen, dass er dabei glücklich wird und dass andere dabei glücklich werden.

Das Machen, das Handeln, das Leisten und das Herstellen wird in der Leistungsgesellschaft als wichtigste Quelle des Glücks gesehen. Wir sind alle — auch in der Politik und in der Erziehung — ständig daran, das, was wir krumm finden, «gerade zu machen», wie es im Vers 14 heisst. Werden wir durch dieses verbissene gegenseitige Gerademachen, durch die Gleichmacherei, durch dieses dauernde Anpassen der Umwelt, der Mitmenschen, an das, was wir für «gerade» (d.h. gerecht, gesund, ordentlich) halten glücklich? Der Prediger des Alten Testaments ruft zu etwas anderem auf. Er empfiehlt die gelassene Betrachtung der krummen und vielfältigen Welt. Unser notwendigerweise zeitbedingtes, engstirniges eigenes Weltbild, nach dem wir die Dinge in unserem Sinn «gerade machen» wollen, wird
konfrontiert mit dem «Walten Gottes», das eben oft krumm erscheint.

Wir sollen das «Walten Gottes» betrachten: Nicht Gott als etwas Personifiziertes, Gutes, Statisches, sondern «das Walten Gottes», das gewaltige, überwältigende, mit dem Intellekt nicht fassbare Geschehen, ausgedrückt im Lebensprinzip, das dem ewig ordnenden und pedantischen Menschengeist eben gekrümmt erscheint.

Die Betrachtung der Vielfalt ist eine Quelle der Gelassenheit. Gelassen sein heisst aber nicht gleichgültig und fatalistisch sein. Auch wer weiss, dass es gute und böse Tage gibt, dass das Helle und das Dunkle gemeinsam ein grösseres Ganzes bilden, braucht der Welt nicht einfach achselzuckend zuzuschauen. Wir sollen den guten Tag nicht einfach konsumieren, den schlechten Tag nicht einfach hinnehmen. Am guten Tag sollen wir, so ruft uns der Prediger zu, guter Dinge sein; das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine anspruchsvolle Herausforderung. Die bösen Tage sollen uns Anlass sein, zu bedenken, dass auch sie «Gott gemacht hat», dass auch sie zum grösseren Zusammenhang des Lebens gehören und einen tieferen Sinn haben.

Die Krümmungen gehören zum Leben, die sind vielleicht das Leben, und wer die richtige Einstellung dazu erlangt, wird vom Druck befreit, für die bösen Tage im Leben Schuldige zu suchen oder sich selber schuldig zu fühlen. Der Aufruf des Predigers, am guten Tage guter Dinge zu sein und am bösen Tage zu bedenken, dass auch diesen Gott gemacht habe, ist kein Aufruf zum passiven Hinnehmen der Welt.

Wir haben den Auftrag, unter dem Eingeständnis unserer beschränkten Möglichkeiten bei der Beeinflussung des Weltenlaufs, aus der gelassenen Betrachtung heraus (nicht aus dessen Verachtung und nicht aus dessen Verherrlichung) im Leben das Beste zu machen.

Was der Prediger in Vers 14 «das Walten Gottes» nennt, kann mit anderen Worten auch als das vielfältig wirkende Lebensprinzip gedeutet werden. Dieses Lebensprinzip entfaltet sich hier und jetzt, in dieser Welt.

Das grundsätzliche Ja zum Leben, das grosse Trotzdem, das eine Frucht der inneren Gelassenheit ist, widerspricht aber auch einer Auffassung, welche das menschliche Tun und Lassen einseitig auf ein Jenseits, auf ein Leben nach dem Tode ausrichtet. Es geht darum, das Leben als Ganzes zu bejahen und zu akzeptieren, ohne auf irgendeine Kompensation – sei’s Lohn, sei’s Strafe – nach dem Tode zu spekulieren. Gerade die Selbstbescheidung, die aus jedem Vers des Predigerbuchs herauszulesen ist, versagt es dem beschränkten
Menschengeist, sich ein Bild von einer kompensatorischen Jenseitswelt nach dem Tode zu machen. Das Vertrauen aufs Leben, ins Leben ist mehr als ein Vertrauen auf ein Überleben nach dem Tod.

Das sogenannte Weiterleben nach dem Tode, bedeutet vielleicht nichts anderes, als dass das «Walten Gottes», das wir betrachten lernen sollen, eben immer weiter geht, weil sich darin auch das Lebensprinzip ausdrückt. Das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft ist glücklicherweise vielfältiger und eigengesetzlicher als sich das die politischen und pädagogischen Gleich- und Gerade-Macher aus allen Lagern vorstellen.

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