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Prokrustes und die Erziehung zur Gleichheit

Lesedauer: 2 Minuten

9/3, 9/4 – Robert Nef / Reflexion Nr. 9 / August 1984

Vorbemerkung:

Ähnlichkeiten mit pädagogischen und politischen Wegelagerern der heutigen Zeit sind — vielleicht — zufällig, aber trotzdem beabsichtigt.

Theseus, der junge Held, ist mit den Sandalen und dem Schwert seines Vaters Aigeus ausgerüstet unterwegs von seinem Geburtsort, an dem er bisher bei seiner Mutter lebte, nach Athen, wo sein Vater herrscht und wo er später König sein wird. Auf seinem Weg begegnet er zahlreichen Gefahren.

Nach verschiedenen Überlieferungen trifft er unterwegs auf sechs gefährliche Gesellen, die noch heute als Wegelagerer zum Erziehungs- und Reifungsprozess gehören. Zunächst muss er den Periphetes, den «Viel Herumgesprochenen» mit dem Beinamen Korynetes, «Keulenmann», der eine eiserne Keule schwingt, erledigen. Er erschlägt ihn mit eben dieser Keule, die er mit sich nimmt. Als zweite Gefahr muss Theseus mit dem «Räuber» Sinis fertig werden, der die Vorbeikommenden zunächst als Hilfe einspannt. Der Weg von der Hilfeleistung zur tödlichen Überforderung ist aber kurz. Beim Helfen an Fichtenstämme festgebunden, werden die Opfer durch das Emporschnellenlassen der Wipfel zerrissen. Auch hier zahlt Theseus mit gleicher Münze heim und übt die klassische «pädagogische Vergeltung». Die dritte Gefahr wird von Phaia, der dunklen Sau, verkörpert, welche von einer alten Frau auf die Wanderer losgelassen wird. Nach deren Erlegung trifft Theseus auf den Wegelagerer Skiron, der seinen Opfern den Wegzoll in Form einer Fusswaschung abverlangt, um sie anschliessend mit einem Fusstritt ins Meer zu stossen, wo sie von Schildkröten gefressen werden. Theseus verweigert den niedern Dienst und wirft den Wegelagerer ins Meer, nachdem er ihm das Waschbecken an den Kopf geschmissen hat. Als fünfte Gefahr muss Theseus einen Ringkampf mit Kerkyon, dem «Geschwänzten», beste-hen. Er gewinnt den harten Zweikampf dadurch, dass er seinen Gegner in die Höhe hebt und fallen lässt, so dass dieser an der eigenen Schwerkraft zerschellt. Die letzte Gefahr, die Theseus auf seinem Weg nach Athen auflauert, ist Prokrustes, der «Ausstrecker».

Nachdem er bisher allen Gefahren der totalen Anpassung durch erfolgreichen Widerstand getrotzt hat, gerät er in die Schmiede des Gleichmachers, der mit seinen Hammerschlägen das Eisen streckt, bis es die von ihm gewünschte Länge hat. Einige Überlieferungen lokalisieren den Prokrustes bei jenem wilden Feigenbaum, bei dem der Totengott Hades seine zeitweilige Gemahlin, die Fruchtbarkeitsgöttin Persephone, raubte.

Andere erzählen, wie Karl Kerény in seiner Mythologie der Griechen darlegt, dass die tödliche Schmiede sich auf dem Korydallos-Gebirge befand. «Dort arbeitete Prokrustes mit seinen Werkzeugen. Zu diesen gehörte aber nicht etwa ein gewöhnlicher Amboss, sondern ein in Felsen gehauenes oder auch geschmiedetes Bett, in das er die Wanderer legte, um sie mit seinem Hammer zu bearbeiten. Denn das Bett war immer zu gross: er musste den Liegenden strecken. Man behauptete später… er hätte zwei Betten bereit gehabt: ein grosses und ein kleines. In das grosse zwang er die Kleinen, in das kurze die Langen, indem er ihnen die überragenden Glieder abhieb. Theseus tat dasselbe mit ihm, und nachdem er den ganzen Weg von den Todesgefahren gesäubert hatte, erreichte er auf der Heiligen Strasse Athen…».

Politiker tun gut daran, ihr Wirken, das nach einer Umschreibung von Hartmut von Hentig das «gemeinsam bewegliche Lösen gemeinsamer Probleme» betrifft, gelegentlich auch an pädagogischen Massstäben zu messen.

Es ist kein Zufall, dass Erziehungs- und Bildungspolitik seit dem letzten Jahrhundert ein Schwergewicht liberaler Anliegen bilden. Liberale Optimisten haben m. E. zu Recht auch immer wieder den Glauben hochgehalten, dass das Menschengeschlecht nicht in jeder Hinsicht und schlechthin unerziehbar sei. Ein bescheidenes Zeichen für diesen Glauben ist auch diese Sondernummer.

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