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Verantwortung, Verzicht, Freiwilligkeit

Lesedauer: 6 Minuten

(NZZ – INLAND – Dienstag, 24. Februar 1976, Seite 31)

«Lebensqualität» als Thema eines IHG-Jahrbuches

Das Jahr 1975 als «Jahr der Frau» und als «Dcnkmalschutzjahr» kann rückblickend kaum als ein «Jahr rd e erhöhten Lebensqualität» bezeichnet werden, obwohl die beiden Slogans mit Lebensqualität direkt und indirekt sehr viel zu tun haben. Die Jahre scheinen sich offensichtlich um ihre schmückenden Beiwörter wenig zu kümmern und nehmen ihren Verlauf ohne Rücksicht auf die Quantität und die Qualität der zahlreichen Druckerzeugnisse, welche Schlagworte prägen, kommentieren und werten. Das Jahrbuch der «Neuen Helvetischen Gesellschaft» war in den letzten Jahren immer wieder ein Forum der kritischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Schlagwort-Bestsellern. Zum Thema «Lebensqualität» haben 1975″ 30 verschiedene Autoren Beiträge geleistet, die je nach individuell gesetzten Schwergewichten näher an rd e unverbindlichen Allgemeinheit des Themas oder an einem persönlichen Interessen- und Tätigkeitsfeld anknüpfen. Nach dem im Vorwort geäusserten Wunsch des Herausgebers Théo Chopard sollte der Band nicht nur eine «reflexion generale» ermöglichen, sondern einen Beitrag leisten zur Entwicklung einer «volonte generale», wobei er vorausgeahnt haben mag, dass das Thema viel Generelles und wenig generell Verbindliches hergibt.

Einmütigkeit trotz Vielfalt

Bei so viel Generalität erstaunt es nicht, dass der Band wenig Stoff zur schöpferischen Kontroverse bietet. Jedermann ist für mehr Lebensqualität und verwahrt sich gegen die «bösen Mächte», die irgendwelche Quantitäten so unbefriedigend produzieren und verteilen, dass offensichtlich verschiedenste Qualitätsmassstäbe gleich empfindlich verletzt werden. Die Welt ist extrem verletzlich geworden, wie alt Bundesrat Celio in seinem Geleitwort feststellt. Die Verantwortung dafür schiebt er nicht irgendeiner eigengesetzlichen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung zu, sondern er sieht sie beim Menschen als einem politischen Wesen, das diese Entwicklung beherrschen müsste, statt von ihr beherrscht zu werden. Der Mensch soll dort Grenzen setzen, wo die Lebensqualität der Menschheit dies verlangt.

Ueber diese im Geleitwort angetönten diagnostischen und therapeutischen Ansatzpunkte herrscht trotz der Vielfalt in der Themenvariation aller Beiträge eine aussergewöhnliche Einmütigkeit. Der Ruf nach Verantwortung, der Appell an die Verzichtbereitschaft und das mehr oder weniger hoch angesetzte Vertrauen in die Freiwilligkeit als Alternative zum kurzfristig wirksamen und langfristig gegenwirksamen Zwang wiederholen sich in beeinah jedem Aufsatz, so dass man meinen konnte, eine «volonte generale» sei bereits perfekt. Robert Schnyder von Wartensee sicht in der Ueberwindung der «Sündenbockmentalität» (= persönliche Uebernahme von Verantwortung), im Rückzug aus der wirklichkeitsfremden Ideologiesierung (= Bereitschaft zum Verzicht) und in der Gelassenheit und Heiterkeit (= Frucht freiwilliger Selbstbescheidung) entscheidende Bestimmungsgrössen der Lebensqualität. Auch aus der Sicht der Neurobiologie kommt Konrad Akert zum Schluss, dass eine «optimale Entfaltung der durch die Hirnsubstanz vorgegebenen Hirnpotenzen» in der verantwortlichen Pflege des Uebernommenen, der sorgfältigen Vorbereitung im Hinblick auf die spät einsetzende Selbstkontrolle und in der Freude, die kreative Impulse vermittelt, begründet ist.

Für den Ingenieur Adolf Ostertag steht «die Einsicht, dass wir in all unserem Tun und Lassen, im besondern auch im Forschen, nie nur Zuschauer, sondern stets auch Mitspielende, Mittragende und Mitverantwortliche im grossen Drama des Lebens sind» im Mittelpunkt. Die Qualität im Arbeitsleben hängt nach den Untersuchungen des Arbeits- und Betriebspsychologen Eberhard Ulich wesentlich von der Weite des «persönlichen Handlungsspielraumes der Aufgabenerweiterung» und von der Möglichkeit der «Selbststeuerung der Gruppe» ab. Auch hinter diesen komplexen Zielen steckt vermutlich das, was man mit dem etwas bieder wirkenden Schlüsselwort «Freiwilligkeit» bezeichnen kann.

Dass für den Theologen Peter Henrici die Begriffe Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen beim «Anstreben einer Ordnung, die aufs Ganze gesehen weniger Nachteile aufweist als alle anderen möglichen Ordnungen» sowie Verzicht als Mittel der Selbstbeschränkung «im Hinblick auf höhere Werte» eine zentrale Rolle spielen, überrascht nicht, aber es zeigt sich hier deutlich, dass Begriffe, die früher kaum im Zusammenhang mit wirtschaftlichen, politischen oder gar naturwissenschaftlichen Bereichen gebräuchlich waren, heute mit dem Anspruch auf erhöhte Allgemeingültigkeit verwendet werden. Zeichnet sich hierin nach der Politisierung der Theologie eine Theologisierung der Politik ab?

Sorge, Gewissen, Umkehr

em>Edmond Tondeur, der seinen informations- umd kommunikationstheoretischen Beitrag mit dem Hinweis auf die Voraussetzungen echter Kommunikation: «Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Verstehen des andern, vielleicht sogar Liebe zum Mitmenschen», abschliesst, entschuldigt sich gewissermassen für diese Terminologie, indem er bemerkt, sie klinge «moralischer als sie gemeint» sei Der heutzutage von verschiedenen Spielarten des Fachjargons malträtierte Leser nimmt solche Abklänge gerne in Kauf, die Möglichkeit der Missverständnisse ist nicht grösser, dafür aber sichtbarer als bei komplizierten Fachterminologien. Die Lebensqualität des Lesers wird bestimmt erhöht, wenn beispielsweise der Mediziner A. Labhart die Quintessenz seines intermedizinischen Beitrags über «Stress und Lebensqualität» durch ein Gedicht von Mörike ausdrückt und mit dem «holden Bescheiden» ein entscheidendes therapeutisches Stichwort für stressgeplagte Kranke und – so ist zu hoffen – auch für Medizinerkollegen liefert.

Gegen die Machbarkeit der Lebensqualität äussert sich Helmut Holzhey aus philosophisch-anthropologischer Sicht In seiner scharfsinnigen Analyse des Schlagworts «Lebensqualität», das für ihn bedenklich nahe beim Ausdruck «Menschenqualität» und «Qualitätsmensch» liegt, warnt er vor der Suggestion, Lebensqualität könne «wie die Beschaffenheit eines Etwas, z. B. einer Ware, bestimmt werden». Die Quantifizierung der Qualität als Bedingung ihrer Machbarkeit wurde in verschiedenen Beiträgen zwar durch sog. Indikatoren und durch Bedürfnishierarchien versucht, aber das von Holzhey geäusserte Unbehagen bleibt. «Sorge ims rechte Leben und rechte Sterben* sowie die Gewissensfähigkeit», die «Freiheit, sich bejahend oder verneinend zu sich selbst zu verhalten» sind nicht als Qualitätsware herstellbar. Wie Gerhard Huber feststellt, bedarf es hiezu einer Lebenswende, einer Umkehr, die nicht nur als Busse im biblischen Sinn, sondern als «Revolution der Denkart» im Sinne Kants verstanden werden kann. Mit dem vielsinnigen Wort Sorge bezeichnet der Planungsmethodikcr Jakob Maurer ein Hauptanliegen. Aus Unfähigkeit, Ungewissheit zu ertragen, hegt der Mensch eine Fülle von falschen Erwartungen, die zu Fehlentscheiden und Enttäuschungen führen, welche die Lebensqualität mehr beeinträchtigen als die offene Konrontation mit tatsächlichen Schwierigkeiten. Vielleicht sind aber auch manche «falschen Ervartungen» gar nicht so falsch und manche tatsächlichen Schwierigkeiten» gar nicht so zwingend tatsächlich.

Ernst der Lage

K. Bättig weist aus der Sicht der Verhaltensbiologie darauf hin, dass «mit zunehmender Bedrängnis die Gefahr irrationalen Verhaltens steigt». Angesichts der zunehmenden Bedrohung nützt das wohlwollende Gespräch allein wenig. «Lebensqualität ist nur für den wohlgenährten Viertel der Menschheit ein Problem, für die übrigen drei Viertel ist nach wie vor das Leben selber das zentrale Problem.» René Longet zeigt eindrücklich, wie Verzichtappelle sinnlos sind, wenn nicht gesagt wird, wer worauf verzichten muss. Der Ernst der Lage erfordert mehr als allgemeine Feststellungen zum Befund des Unbehagens in der technischen Zivilisation. Eine Therapie ist nur auf dem Wege der Konkretisierung von Zielen und Mitteln erfolgversprechend.

Die Beiträge der beiden Frauen Cécile Ernst ind Elisabeth Michel-Alder (warum sind eigentich unter den Autoren nur zwei Frauen im Jahr der Frau?) sind in wohltuender Weise sachlich, indem sie mitten im teilweise recht emotionellen Schlagwortgefecht ihrer männlichen Mitautoren ein persönliches Anliegen darstellen und damit wohl einen gangbaren Weg weisen zur konkreten Verbesserung der Lebensqualität beitimmter benachteiligter Mitmenschen.

Den Bogen von grundsätzlichen theoretischen Feststellungen bis zu möglichen praktischen Schlussfolgerungen schlägt Hans-Christoph Binswanger in seinem Beitrag über «Oekonomie und Lebensqualität». Oekonomie kann einerseits auf dem Gewinnprinzip, bei dem «ein möglichst hoher Ertrag mit möglichst geringem Aufwand erwirtschaftet werden soll», aufgebaut werden. Anderseits kann in Anerkennung einer Grenze das Grundprinzip der Wirtschaft darin gesehen werden, «bei vorgegebenem Aufwand den Ertrag möglichst gross bzw. bei vorgegebenem Ertrag den Aufwand möglichst niedrig zu halten» (Haushaltprinzip). Der heute notwendige Uebergang vom Gewinn- zum Haushalt- und Sparprinzip vollzieht sich nach Binswanger nicht von selbst. Er kann nur auf Grund eines politischen Willens zur bewussten gemeinsamen Selbstbegrenzung stattfinden, der sowohl die Gesichtspunkte der Lebensqualität als auch die Gesichtspunkte der Oekonomie im Sinn des Haushaltprinzips berücksichtigt. Wie das Beispiel der Eigentumsordnung und der Energiewirtschaft zeigt, konkurrieren die Ansprüche, welche beiden Gesichtspunkten Rechnung tragen. Die Lösung des Konflikts sieht Binswanger in einer ausdrücklichen Anerkennung dieser Konkurrenz, was beim Eigentum zu einer Konzeption mit grundsätzlich konkurrierenden Ansprüchen führt. Bei einem erhaltenswerten Gebäude führt dies beispielsweise konkret «zu einem privaten Eigentum aus der Nutzung des Gebäudes für Wohn- und Arbeitszwecke und einem Miteigentum der Allgemeinheit an der Gestalt bzw. der Fassade die auch alle diejenigen anschauen, die zwar nicnt darin wohnen und arbeiten, aber täglich daran vorbeigehen. So sehr es widerrechtlich ist jemandem die Nutzung eines Gebäudes zu verweigern, das ihm “gehört”, so muss umgekehrt der Abbruch eines wertvollen bzw. die Aufstellung eines hässlichen Gebäudes als Verletzung von Eigentumsrechten der Allgemeinheit, ja geradezu als Diebstahl von Gemeinbesitz angesehen werden.»

Man hätte gerne in dem Sammelband noch mehr Beiträge mit ähnlicher Spannweite und mit derselben gezielten Aussagekraft gefunden. Leider blieben hier etliche Chance ungenutzt. Der Mangel an Lebensqualität lässt sich allein durch vohlgemeinte Appelle an den Einzelnen nicht nachhaltig beheben, weil er auch nicht allein durch individuelles Fehlverhalten verursacht wird. Die Schlüsselworte Verantwortung. Verzicht, Freiwilligkeit bedürfen nicht nur einer Konkretisierung, sondern auch einer Radikalisierung im ursprUnglichen Sinn. d. h. der äussersten AAusnützung des eng begrenzten Spielraums, den wir haben. Die Wurzeln der Veränderung sind nicht nur bis ins Verhalten des Einzelnen hinein zu verfolgen, sondern in die Zusammenhänge, welche dahinter stehen. Den Teufelskreis abnehmender Lebensqualität können wir nur dann wirksam durchbrechen, wenn wir gemeinsam die vielfältigen Voraussetzungen im wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Bereich schaffen für die notwendigen grundsätzlichen Verhaltensänderungen.

Robert Nef


* Die Schweiz 1975. Jahrbuch der NHG, 46. Jahrgang, Jahrbuch-Verlag der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Bern 1975.

NZZ Dienstag, 24. Februar 1974, Seite 31

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