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Abstimmungen als Willens- oder Unwillenskundgebungen

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – INLAND – Dienstag, 19. August 1975, Seite 23)

Volksabstimmungen sind in letzter Zeit häufig eher eine Gelegenheit zur Kundgebung des im Volk vorhandenen Unwillens als eine Ermittlung des Volkswillens. Der Unwille äussert .sich nicht nur in einer schlechten Stimmbeteiligung, snonder auch in einer grossen Zahl von «prinzipiellen» Nein-Stimmen. Die Gründe für dieses Abstiinmungsmalaise sind sicher vielfältig. Die Volksabstimmungen werden in verschiedenster Hinsicht als problematisch empfunden.

Problematisches Verfahren

Verschiedentlich ist schon darauf hingewiesen worden, dass das Abstimmungsverfahren bei Initiativen, denen Gegenvorschläge gegenüberstehen, den Volkswillen verfälscht zum Ausdruck bringen. Dies kann auf Grund von Erkenntnissen der Entscheidungstheorie plausibel nachgewiesen werden. Eine Reform, welche der Kritik und diesen Erkenntnissen Rechnung trägt, ist notwendig, selbst wenn die Probleme dadurch nicht vereinfacht und auch nicht vollständig gelöst werden.

Der Gehalt der Demokratie ist ganz entscheidend vom Verfahren abhängig, so dass Verfahrensfragen im demokratischen Rechtsstaat gleichzeitig auch Grundsatzfragen sind. Dies wird im politischen Tagesgespräch zu wenig beachtet. Schlagworte wie «Demokratisierung» oder «Verwesentlichung der Demokratie» beherrschen das Feld, wobei sich dahinter häufig nur die Tendenz zum Abbau demokratischer Rechte zugunsten der Bürokratie verbirgt. Die undifferenzierten Postulate verlangen viel weniger «geistige Unkosten » als die heikel» Fragen der organisatorischen und verfahrenstechnischen Ausgestaltung demokratischer Rechte, die gerade für die heute diskutierte Mitbestimmung im Betrieb eher nach dem Prinzip «Je betroffener, desto beteiligter» als nach dem Prinzip «Jeder eine Stimme» sinnvoll wären. Diese unbequemen, komplizierten Organisations- und Verfahrensfragen bzw. das Spiel, das damit getrieben wird, sind ausschlaggebend, wenn nach der tatsächlichen Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung gefragt wird.

«Slimmfaulheit» als Symptom

Das mangelnde Interesse der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bei Volksabstimmungen und Wahlen wird gerne kritisiert, und man ist allzu schnell bereit, die Schuld daran bei der sogenannten «Stimmfaulheit» zu suchen. Der «faule Stimmbürger» wird zum Sündenbock, und mit einer pauschalen Kritik am Stimmbürger spart man sich die differenzierte Kritik an den staatlichen Institutionen. Ist denn wirklich der Stimmbürger schuld, wenn es den Parlamenten nicht mehr gelingt, die vorhandenen und entstehenden Probleme so zu lösen, dass sich sogenannt überflüssige Initiativen tatsächlich erübrigen? Wenn wir davon ausgehen, dass der Staat für den Burger da ist und nicht der Bürger für den Staat, so müssen wir auch in Betracht ziehen, dass nicht nur die Stimmbürger, sondern auch die staatlichen Institutionen und die Behörden in mancherlei Hinsicht unzulänglich sein konnten. An undifferenzierter, lautstarker und primär destruktiver Kritik an Staat und Gesellschaft fehlt es zwar nicht. Neben der pauschalen Infragestellung, die wenig Neues bringt, gibt es aber differenzierte, kritische Beiträge, welche auch den Weg offnen konnten für befriedigende Verbesserungen.

Verpönte politische Theorie

Seit Max Imbodens Schrift «Helvetisches Malaise» (Zürich, 1964), durch welche viele Schweizer aus dem «Schlaf des Gerechten» gerüttelt wurden, sind schon zahlreiche wertvolle einzelne Arbeiten zum Thema Staatsreform publiziert worden. Die Arbeit an der Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung ist allerdings bisher in mancher Beziehung eine Trockenübung im Grenzbereich von Theorie und Praxis geblieben. Verschiedene theoretische Publikationen, wie etwa Leonhard Neidharts «Plebiszit und pluralitäre Demokratie» (Bern, 1970), wurden – vielleicht wegen des sprachlich komplizierten Titels – kaum zur Kenntnis genommen. Auch die populärer geschriebenen kritischen Beiträge von Rudolf Schilling («Demokratie der Teilnahme», Zürich 1973) und das vom ORL-Institut der ETH publizierte «Teilleitbild Staatspolitik» (1972) von Werner Geissberger vermochten die in der Schweiz allgemein verbreitete Theoriefeindlichkeit im Bereich der Politik nur wenig zu verringern. Dabei sind gerade Probleme des Abstimmungs- und Wahlverfahrens sowie deren institutionelle und personelle Auswirkungen ohne theoretische Kenntnisse und ohne sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen kaum lösbar.

Kürzlich haben zwei jüngere Politikwissenschafter, Wolf Linder und Rolf Vetterli, am ORL-Institut der ETH eine interessante Studie über die «Möglichkeiten und Grenzen politischer Planung in der Schweiz» verfasst (Zürich, 1974, vervielfältigt). Die Studie war als Grundlage für ein Forschungsprojekt des Nationalfonds konzipiert, das leider ohne Begründung abgelehnt wurde. Linder und Vetterli weisen in dieser Studie auf die Rolle der Abstimmungen und speziell der Volksinitiativen in unserem politischen System hin und gelangen zu folgenden Feststellungen: «Initiativen sind oft ein Ventil für bedeutende, von der „Systempolitik“ verdrängte Probleme. Verletzen solche Vorstosse den Status quo der systematisch repräsentierten Interessen allzusehr, so sind diese allerdings in der Lage, sehr schnell eine einflussreiche, grosse Gegenkoalition zu formieren oder aber das Volksbegehren mit flexiblen Gegenvorschlägen einzufangen und auf akzeptable Veränderungen des Status quo zurückzubinden. Der zunehmenden Einflusslosigkcit rd e Aktivbürgerschaft in sehr wesentlichen Fragen steht eine zunehmende Beanspruchung des Stimmbürgers in zum Teil belanglosen Sachfragen gegenüber. Das kann zur Hauptsache zwei Konsequenzen haben: Entweder nimmt der Stimmbürger jene bedeutsameren Entscheidungen, die man über seinen Kopf weg beschliesst, desinteressiert oder uninformiert hin, oder ein diffuser, aus gegensätzlichen Motiven zusammengesetzter Unwille des Stimmbürgers verschafft sich durch Nein-Stimmen Luft (Abstimmung als Protestgang „schweigender“ Mehrheiten).»

Abstimmungstaktik als Manipulation

Linder und Vetterli deuten an, dass das Abstimmungsproblem bei Initiativen neben staatsrechtlichen und entscheidungstheoretischen Aspekten noch einen gewichtigen politischen Aspekt hat. Durch die entsprechende «taktisch dosierte» Formulierung von Gegenvorschlägen kann das Lager der Befürworter einer Veränderung so aufgespalten werden, dass der Status quo obsiegt. Dieses taktische Vorgehen ist in jenen Fällen besonders stossen’, in denen der Veränderungswille an sich so stark vorhanden ist, dass der in den Behörden mehrheitlich akzeptierte Gegenvorschlag nicht sehr wesentlich vom eigentlichen Vorschlag abweicht. Gerade die relativ geringe Differenz von Vorschlag und Gegenvorschlag kann sich in einer Abstimmung verhängnisvoll auswirken. Dies hat sich bei der eidgenössischen Abstimmung über die Reform der Krankenversicherung, aber auch bei der zürcherischen Abstimmung über das Nationalstrassen-Y bzw. I eindrücklich gezeigt. In beiden Fällen war es neben dem fragwürdigen Verfahren auch das mangelhafte Profil der Fragestellung, welches ausschlaggebend war für das Resultat zugunsten des Status quo.

Verfahrensprobleme und Verhaltensprobleme

Selbst wenn das Abstimmungsverfahren nach bereits formulierten Vorschlägen verbessert würde, bliebe ein grosser ungelöster Problemrcst. Eine effektive Verbesserung ist nämlich nur zu erreichen, wenn es gelingt, die Verhaltensweise rd e Behörden und der Stimmbürger so aufeinander abzustimmen, dass Abstimmungen tatsächlich den mehrheitlichen Volkswillen ermitteln und keine taktischen Täuschungs- und Selbsttäuschungsmanöver darstellen. Heute wimmelt es in rd e schweizerischen Politik von Abstimmungsstrategen und -taktikern, welche die jedem Verfahren innewohnenden Schwächen zu ihren Gunsten und zuungunsten der effektiven Mehrheit auszunützen versuchen. Die Abstimmungstaktik wird auch im Parlament praktiziert, wie die Debatte im Nationalrat zum Problem des Schwangerschaftsabbruchs gezeigt hat.

Dies ist ein Grund dafür, dass sich der Bürger oft nur als Objekt taktischer Manipulationen fühlt und zum «grundsätzlichen» Nein-Stimmer wird. Das Abstimmungsproblem ist nicht nur ein Verfahrensproblem, es ist auch ein politisches Verhaltensproblem. Sollen Abstimmungen ihrer willensbildenden Funktion gerecht werden, so ist zwischen Behörden und Stimmbürgern eine institutionell nicht machbare Uebereinstimmung notwendig, das, was die Entscheidungstheoretiker «Konsistenz der kollektiven Ordnung» nennen. Mit diesem permanenten gegenseitigen Aufeinander-abgestimmt-Sein von Behörden und Stimmbürgern stimmt es heute nicht mehr. Die Rollenverteilung zwischen Mitbestimmenden und Mitbestimmten funktioniert nicht. Sie muss neu bestimmt und vereinbart werden. Dies verlangt politische Verfahrensreformen und politische Verhaltensreformen die beiden Problemkreise hängen eng miteinander zusammen.

Von der Theorie zur Praxis

Obwohl der Prozess der gegenseitigen Abstimmung von Behörden und Stimmbürgern nicht durch irgendeine wissenschaftlich erarbeitete Verfahrenstechnik herstellbar ist, können Fachleute doch entscheidende Beiträge zur Diagnose und Therapie des Abstimmungsmalaises liefern. Die theoretischen Untersuchungen der Politikwissenschaft, der Staatsrechtslehre sowie der Entscheidungstheorie müssen vermehrt zur Kenntnis genommen und in der Praxis verarbeitet werden. Die Forschung auf diesen Gebieten sollte grosszügig gefördert werden, wobei anzustreben wäre, dass ihre Resultate auch in allgemeinverständlicher Form dargestellt werden. Das Einfache steht aber oft nicht am Anfang, sondern am Ende wissenschaftlicher Bemühungen, so dass eine gewisse Geduld und Nachsicht gegenüber einer komplizierten Terminologie gerade bei neuen Forschungszweigen angezeigt ist. Bevor sich Behörden und Politiker andere, «bessere» Stimmbürger herbeiwünschen, sollten sie ihr eigenes Abgestimmtsein auf den Volks- und Wählerwillen einer eingehenden Prüfung unterziehen. Fachleute aus der Wissenschaft konnten ihnen dabei behilflich sein.

Robert Nef

NZZ Dienstag, 19. August 1975, Seite 23

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