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Demokratie und Umweltschutz

Lesedauer: 8 Minuten

(NZZ – INLAND – Dienstag, 8. Januar 1974, Seite 15-16)

Bemerkungen zu zwei Schlagworten

Von Robert Nef, wissenschaftlichem Assistenten am ORL-lnstitut der ETH Zürich

Demokratie ist ein Schlagwort, das wohl gerade wegen seiner unbestimmten Bedeutung gerne verwendet wird. Aehnlich verhält es sich mit dem Umweltschutz. Was soll nun die Konfrontation dieser beiden Schlagworte, die so vielsagend sind, daß sie kaum mehr etwas Konkretes aussagen? Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, in einem Artikel zum Thema «Umweltschutz und Demokratie» eine systematische Uebersicht über beide Problemkreise zu geben. Ich beschränke mich darauf, aus der Konfrontation der beiden Stichworte willkürlich einzelne grundsätzliche Probleme aufzugreifen, die ich persönlich für wesentlich halte. Es sind dies die Fragen nach dem Zusammenhang von Umweltschutz und Verzichtbereitschaft, nach dem öffentlichen Interesse am Umweltschutz im Vergleich zu andern öffentlichen Interessen und die Unterscheidung von Betroffenen und Beteiligten bei Umweltschutzmaßnahmen.

Verzichtbereitschaft und Demokratie

Der teils freiwillige, teils erzwungene Verzicht ist eine der Grundlagen des sozialen Zusammenlebens. Ansprüche und Verzichtleistungen sind Gegenstand jedes Normengefüges, auch des rechtlichen, obwohl das Wort Verzicht eher ethische und moralische Assoziationen weckt. Ob ein gewisses Maß an Freiwilligkeit bereits notwendigerweise zum Begriff des Verzichts gehört und ob beispielsweise gesetzlich oder pädagogisch erzwungene Verzichtleistungen keine «echten Verzichte» mehr sind, ist eine Frage der terminologischen Uebereinkunft und braucht hier nicht diskutiert zu werden. Interessant ist, wie häufig mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, daß die Bereitschaft zum Verzicht nur aus Einsicht in dessen Notwendigkeit, welche durch sogenannte Aufklärung erreicht wird, erfolgen könne. Ist diese Selbstverständlichkeit, mit welcher Verzichtleistung als Resultat eines Lernprozesses gesehen wird, Ausdruck einer spezifisch demokratischen Gesinnung oder beruht sie einfach auf einer landesüblichen und zeitgemäßen pädagogischen Beflissenheit? Handelt es sich bei diesem Lernprozeß für die Verzichtbereitschaft zugunsten des Umweltschutzes um ein Informationsproblem, oder muß hier motiviert bzw. manipuliert werden? Das Stichwort «Verzicht» halte ich für ein wesentliches Schlüsselwort für die Zukunftsbewältigung und Zukunftsgestaltung. Mit den angetönten offenen Fragen sollen die Zusammenhänge zwischen Umweltschutz und Demokratie sichtbar gemacht werden. Diese Zusammenhänge sind nicht nur theoretisch interessant. Bei näherer Betrachtung können daraus neben rein diagnostischen auch therapeutische Gesichtspunkte gewonnen werden.

Die Frage, ob der Umweltschutz grundsätzlich durch Zwang oder durch Freiwilligkeit sicherzustellen sei, wird spontan vielleicht etwas vorschnell zugunsten des Zwangs entschieden. Ein von pädagogischem Optimismus geprägter Glaube an die freiwillige Einsicht aller Umweltverschmutzer und -störer und an eine darauf beruhende Verzichtbereitschaft scheint tatsächlich angesichts der herrschenden Uniweltmisere reichlich naiv. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß alle gesetzlichen Bestimmungen, welche einen Zwang ermöglichen sollen, zunächst einmal im Gesetzgebungsverfahren einer demokratischen, mehrheitlich freiwilligen Zustimmung bedürfen. Eine Einigung ist dann relativ leicht zu finden, wenn es um generelle, vorerst wenig konkrete Bekenntnisse zum Umweltschutz geht; so wurde der Artikel 24septies rder Schweizerischen Bundesverfassung betreffend den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt gegen schädliche und lästige Einwirkungen in der Volksabstimmung vom 6. Juni 1971 mit überwältigendem Mehr (etwa 90 Prozent der Stimmen) angenommen. Sobald die Bestimmungen aber konkreter werden und auch die Wertantinomien und Interessenkonflikte deutlicher zutage treten, wird sich die Konsensbereitschaft zur Einführung von Zwangsmaßnahmen verringern. Es wird eine heikle Aufgabe des Gesetzgebers sein, die jeweiligen einschneidenden Konsequenzen aus den allgemein akzeptierten Grundsätzen schlüssig abzuleiten, so daß die speziellen Normen die allgemeinen konkretisieren und nicht relativieren. Diese Aufgabe ist deshalb schwer, weil sie in einem Spannungfeld von Meinungen gelöst werden muß. Man kann in diesem Spannungsfeld unter anderem drei «Prinzipien» feststellen, welche ich pointiert als «Schwarz-Peter-Prinzip», als «Sankt- Florian-Prinzip» und als «Sündenbock-Prinzip» bezeichnen möchte. Alle drei Prinzipien sind meines Erachtens für das Verhältnis von Umweltschutz und Demokratie bezeichnend.

Das Schwarz-Peter-Prinzp

Dieses Prinzip beruht auf der Tatsache, daß es in verschiedenster Hinsicht schwerhält, die an der Umweltbeeinträchtigung Beteiligten und Betroffenen den für den Umweltschutz Verantwortlichen zuzuordnen. Die politisch unpopuläre Verteilung von Kosten und Sanktionen und die ebenso unpopuläre Erzwingung von Verzichten halten das Spiel im Gange, an dem nicht nur verschiedene Verschmutzer und Störer, sondern auch verschiedene Instanzen, Körperschaften, Produzenten, Konsumenten und Steuerzahler beteiligt sind.

Das Sankt-Florian-Prinzip

An diesem Prinzip wird ein Grundproblem der föderativ aufgebauten Demokratie sichtbar. «Heiliger Sankt Florian, verschone unsere Häuser, zünd’ lieber andere an!» heißt es verständlicherweise in mancher Gemeinde, wenn es um den Standort einer «emissionsverdächtigen» Einrichtung geht. Man kann hier folgende Fragen stellen; Wie viele Opfer können einem kleineren Verband (z. B. einer Gemeinde) gegen seinen Willen von oben (z. B. Kanton oder Bund) zugemutet werden? Wie weit geht die «Selbstbestimmung zu Lasten anderer»? Auf welcher Stufe, in welcher räumlichen Einheit, in welcher Gebietskörperschaft manifestiert und konkretisiert sich das relevante öffentliche Interesse? Auf dieses im Zusammenhang mit dem Sankt-Florian-Prinzip auftauchende Dilemma, das sich letztlich aus der Gegenüberstellung der Begriffe «Demokratie», «Föderalismus» und «Umweltschutz» ergibt, ist im Abschnitt über das öffentliche Interesse zurückzukommen.

Das Sündenbock-Prinzip

Dieses Prinzip geht von einem andern Gesichtspunkt aus. Für Vertreter des Sündenbock- Prinzips sind Umweltverschmutzer und -störer eine kleine mächtige Minderheit von «Ressourcenschmarotzern», welche auf Kosten der großen ausgebeuteten Mehrheit lebt. Allein eine echte Demokratie kann die Herrschaft der verschmutzenden Minderheit über die verschmutzte Mehrheit brechen und den Schutz der Umwelt im öffentlichen Interesse sicherstellen. Das Umweltschutzproblem kann unter diesem Aspekt als ein Demokratieproblem, als ein Herrschaftsproblem, gedeutet werden. Man glaubt, daß es in einer funktionierenden Demokratie nur noch darum gehe, daß die aufgeklärte Mehrheit ihre «natürliche Umweltfreundlichkeit» gegen die kleine mächtige Minderheit der Umweltfeinde durchsetzen könne. Diese grob vereinfachende Betrachtungsweise des Sündenbock-Prinzips berücksichtigt, vor allem im weltweiten Rahmen gesehen, sicher richtige Gesichtspunkte. Es wird hier augenfällig, daß Umweltschutzprobleme immer auch weltweite Zusammenhänge berühren und daher auch auf internationaler Ebene gelöst werden müssen. Diese Bemerkung soll aber nicht Anlaß sein, den Schwarzen Peter einer Verpflichtung zum Verzicht an mehr oder weniger machtlose supranationale Instanzen weiterzugeben. Der Umweltschutz als Immissionsschutz kann weitgehend schon auf nationaler Ebene sichergestellt werden, wenn der Wille dazu vorhanden ist.

Die Verfechter des Sündenbock-Prinzips unterbrechen die Kausalkette eines Verursacherkreislaufs an jenem Punkt, der ihnen wesentlich scheint, und identifizieren und personifizieren dann die sogenannten Alleinschuldigen als «bösen Feind» (z. B. «die Industrie», «die Wirtschaft», «die Industrienationen»). Jene, die bei der abstrakten verallgemeinernden Personifikation des Sündenbocks am weitesten gehen und «das System» verantwortlich machen, charakterisieren vielleicht mit einer Korabination von grober Vereinfachung und starker Verallgemeinerung die komplexen Zusammenhänge am zutreffendsten. Von der abstrakten Bezeichnung «System» fühlt sich jedoch kaum jemand betroffen, und so kann unter dem Schlagwort «das System, das sind die andern» das Schwarz-Peter-Spiel endlos weitergespielt werden, ohne daß das Eingeständnis «wir alle sind das System» die Selbstgerechtigkeit zu stören vermöchte. Immerhin kann das Sündenbockprinzip in vielen Fällen zu einem wirksamen Umweltschutz führen. Auch wenn man eingestehen muß, daß sowohl Produzenten als auch Konsumenten am umfassenden Umweltkonsum beteiligt sind, wird es doch im Einzelfall häufig möglich sein, den regressus in infinitum auf der Suche nach dem rechtlich faßbaren Verursacher irgendwo zu unterbrechen. Dabei wird eine zweckmäßige Gesetzgebung eher vom praktischen Gesichtspunkt der Faßbarkeit und Beeinflußbarkeit als von einem moralisierenden Schuldkriterium ausgehen müssen. Die Reduktion von Immissionen des Automobilverkehrs kann beispielsweise nicht wirksam durch Ausschaltung von Erdölinteressen erfolgen, selbst wenn sich zwischen Automobilverkehr, Automobilindustrie und Erdölproduktion ein direkter Verursacherzusammenhang nachweisen ließe.

Eine modifizierte und differenzierte Variante des Sündenbock-Prinzips ist das sogenannte Verursacherprinzip, das sowohl im Haftpflichtrecht als auch im Polizeirecht zu den fest verankerten Grundsätzen gehört.

Die drei erwähnten «Prinzipien» charakterisieren alle das Dilemma einer föderativ aufgebauten Demokratie gegenüber der notwendigen Verzichtbereitschaft. Jedes dieser Prinzipien wird unter Berufung auf demokratische Selbstbestimmungsrechte praktiziert, und jedes kann einen wirksamen Umweltschutz vereiteln, wenn es ohne Einschränkung verfolgt wird. Alle drei Prinzipien sind Ausdruck einer bestimmten Mentalität, und da sich Mentalitäten einer Beeinflussung durch Zwangsmaßnahmen weitgehend entziehen, gelangt man zu folgenden Feststellungen:

Die Installierung von wirksamen gezielten Umweltschutz-Zwangsmaßnahmen ist in einer Demokratie ohne erhebliche, letztlich freiwillig erbrachte Verzichtleistungen kaum möglich. Eine weitgehend auf erzwingbaren Verzichtleistungen basierende Umweltschutzgesetzgebung ist aber heute notwendig. Je stärker die demokratische Mehrheit ist, welche auch im konkreten Fall als beteiligte und betroffene Bürger eine Verzichtvorschrift aus Einsicht in deren Notwendigkeit bejaht, desto kleiner ist die Gefahr, daß eine Vorschrift bei der Gesetzgebung oder bei der Anwendung den drei erwähnten Prinzipien zum Opfer fällt.

Umweltschutz und öffentliches Interesse

Grundsätzliche Zweifel an der Notwendigkeit eines wirksamen Umweltschutzes sind heute nicht mehr verbreitet, und doch hört man gelegentlich die bange Frage: «Wer schützt uns vor den Umweltschützern?» inwiefern der Umweltschutz im konkreten Fall tatsächlich im öffentlichen Interesse liegt, kann nur dann festgestellt werden, wenn einigermaßen klare Vorstellungen über Inhalt und Tragweite der beiden Begriffe vorhanden sind. Was den Begriff «Umweltschutz» betrifft, sind im bereits sehr umfangreichen Schrifttum zwei Tendenzen sichtbar. Einerseits wird unter «Umweltschutz» im weitesten Sinn ein «Uranliegen», «das Bestreben, mit adäquaten Mitteln das biologische, geistige und moralische Gleichgewicht der Welt in optimalem Ausmaß zu gewährleisten» (so Giger in: Schweiz. Umweltschutzrecht, Zürich 1973) verstanden, anderseits wird der Terminus in einem engen Sinn als Synonym für den klassischen polizeirechtlichen und sachenrechtlichen Immissionsschutz verwendet. Nach den Materialien muß m. E. bei der Auslegung des Art. 24septies der Schweizerischen Bundesverfassung von dieser engen Bedeutung ausgegangen werden. Das «geistige und moralische Gleichgewicht der Welt» (Giger) falls wir daran glauben und darauf hoffen wollen wird sich wohl auch durch den radikalsten und totalsten Umweltschutz kaum je sicherstellen lassen.

Mit dem Begriff des «öffentlichen Interesses» haben sich die Philosophie, die Sozialwissenschaften und speziell die Rechtswissenschaft immer wieder auseinandergesetzt. In der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts spielt der Begriff des öffentlichen Interesses vor allem als eine der Voraussetzungen für die Enteignung eine wesentliche Rolle. Der Wandel der Auffassung über das öffentliche Interesse, welcher in den verschiedenen Urteilen zum Ausdruck kommt, wird von den einen als Anpassung an die neuen und größeren Sozialaufgaben des Staates, von andern als sklavisches Nachhinken hinter der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung bezeichnet. Auf die grundsätzlich politische Natur des Entscheids, was im öffentlichen Interesse sei, ist m. E. zu Recht immer wieder hingewiesen worden.

Liegen sämtliche in einem demokratischen Verfahren verabschiedeten Gesetze gewissermaßen automatisch im öffentlichen Interesse? Sind die jeweils geltenden Gesetze der vollständige Ausdruck des demokratisch «objektivierten» vorherrschenden öffentlichen Interesses? Werden beispielsweise jene Umweltschutzbestimmungen, die das Gesetzgebungsverfahren überstehen (jener kleinste gemeinsame Nenner, der referendumspolitisch Chance hat), das öffentliche Interesse am Umweltschutz schlechthin enthalten? Die Fragen widerspiegeln eine Skepsis gegenüber dem Gesetzgebungsverfahren und gegenüber dem Gesetz. In einem Vortrag von Hans Huber findet sich zu diesem Fragenkomplex folgender aufschlußreicher Passus:*

«Wir sehen klar den pluralistischen gespaltenen Gesetzgeber und sein Erzeugnis: Das Gesetz als oft einseitiges Ergebnis von Auseinandersetzungen von Macht und Mächten, das Gesetz als Austauschergebnis von bisweilen sachfremden Zugeständnissen, das Gesetz auf dem Buckel derer, die nicht hinreichend repräsentiert waren. Wir wollen diese Lage nicht weiter ausmalen und auch der manchen Gesetzen verbliebenen Qualität nicht schaden.»

An diese fragmentarischen Erörterungen über Umweltschutz und öffentliches Interesse möchte ich folgende Feststellungen anschließen: Ein wirksamer Umweltschutz kann sowohl an der zu starken Verabsolutierung als auch an der Relativierung seiner Postulate scheitern. Undifferenzierte Umweltschutz-Begeisterung kann leicht wieder in allgemeine Umweltschutzskepsis umschlagen. Das öffentliche Interesse am Umweltschutz deckt sich inhaltlich nicht automatisch mit dem Gemeinwohl schlechthin. Es muß vor allem bei der Gesetzgebung sorgfältig geprüft werden, wie der Umweltschutzbegriff definiert wird und auf welche öffentlichen Interessen Umweltschutzvorschriften abgestützt werden.

Träger, Inhalt und allenfalls auch Begründung der jeweils zur Debatte stehenden öffentlichen Interessen müssen gründlich studiert werden. So kann eine Vorschrift z. B. durchaus im öffentlichen Interesse des Bundes sein und gleichzeitig dem ebenfalls öffentlichen Interesse eines Kantons oder einer Gemeinde zuwiderlaufen. Eine sorgfältige Interessenabwägung ist nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch bei der Gesetzgebung notwendig, und zwar nicht nur zwischen öffentlichen und privaten Interessen, sondern auch zwischen den verschiedenen öffentlichen Interessen, die in einem föderalistisch aufgebauten Staat auftreten.

Umweltschutz Betroffene und Beteiligte

Das im erwähnten Zitat von Hans Huber angedeutete Problem der nicht hinreichenden Repräsentation ist zurzeit eines der Hauptthemen in der politikwissenschaftlichen Demokratiediskussion. Die Industriegesellschaft, ein Konglomerat von sozialen Systemen verschiedenster Art, hat höchst komplizierte soziale Strukturen. Huber spricht von «Teilgebilden, von denen der Mensch häufig nur in einer Hinsicht erfaßt wird, als Arbeitnehmer, als Steuerpflichtiger, als Ortsansässiger, als Mieter und Mietschutzberechtigter, als Verkehrsteilnehmer, als Nutznießer der Leistungsverwaltung, insbesondere Sozialversicherungsbezüger» und von einer «teils verflochtenen Mehrheit von oft neuartigen Sozialstrukturen». Am Problem des mangelhaften Umweltschutzes wird offensichtlich, daß gewisse Konflikte in diesem komplexen System von Beteiligten und Betroffenen nicht bdefriedigen gelöst werden – u. a. wegen der beschriebenen drei Prinzipien. Eine Demokratie, welche im Idealfall die Identität der Herrschenden und Beherrschten voraussetzt und die vom Grundsatz «one man, one vote» ausgeht, hat es in diesem komplizierten Interessengefüge von Beteiligten und Betroffenen schwer, durch Mehrheitsbeschluß jenen sozial tragbaren kleinsten gemeinsamen Nenner zu bestimmen, der das öffentliche Interesse manifestieren soll. Ich glaube aber nicht, daß angesichts dieser Komplexität Resignation am Platze wäre oder daß der voreilige Ruf nach einer autoritären Führungsspitze erschallen müßte. Die Sicherstellung des Umweltschutzes im Sinn eines umfassenden Immissionsschutzes ist m. E. auch für ein komplexes System von Beteiligten und Betroffenen kein a priori unlösbares Problem. Gerade die Tatsache, daß es mindestens teilweise möglich sein wird (nach dem Sündenbock-Prinzip), einer zahlenmäßig kleinern Minderheit primär Verzichtleistungen abzuverlangen, deren Auswirkungen für eine Mehrheit erst längerfristig (z.B. durch höhere Preise bzw. höhere Steuern) spürbar wird, gibt dem Umweltschutz in einer Demokratie Chancen. Eines darf man aber nicht vergessen: Der politische Entscheidungs- und Willensbildungsprozeß kann nicht beliebig mit wenig reflektierten Problembrockcn gespeist werden.

Wir stecken zurzeit mitten in einem Umweltschutz-Lernprozeß, der voller Unzulänglichkeiten ist. Es ist schwer, zu entscheiden, wo die größte Unvollkommenheit liegt, beim Umweltschutz-Lehrstoff (Forschungsresultate, Therapievorschläge), bei den Umweltschutz-Lehrkräften (Sprache der Fachleute, Ueberzeugungskraft der Politiker) oder bei der Lernfähigkeit der beteiligten und betroffenen Bürger. Die Zeit drängt, und wir können nur hoffen, daß weder der Umweltschutz an der Demokratie noch die Demokratie am Umweltschutz scheitert.


* Huber Hans: Gemeinwohl als Voraussetzung der Enteignung, in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht. Bern 1971, S. 497.

NZZ Dienstag, 8. Januar 1974, Seite 15-16

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